Durch den Gang der Stimmen in fremde Tonarten bei kurzen Melodien, wird na- türlich die harmonische Begleitung oft gezwungen und unfreundlich; und dieses kurze Beispiel soll nur beweisen, welcher verschiedener Begleitung oder harmonischer Verän- derungen eine Melodie fähig ist, und wie durch solche Veränderung; wenn sie öcono- misch angewendet wird, die unbedeutendste Melodie gewinnen kann, wenn zumal noch die rhythmischen Schönheiten und andre Hülfsmittel des Ausdrucks, hinzukommen.
Man hat sich bisher viele Mühe gegeben, alle Fälle der Modulation zu bestimmen, und Regeln auf Regeln gehäuft, welche Accorde möglicherwelse auf einander folgen können, und doch den Zweck: ein untrügliches System darüber aufzustellen, nicht erreicht. Viel sicherer erreicht man den Zweck, wenn ein Harmonieschritt; das heißt: die Fort- schreitung von einem Accorde zum andern, so behandelt wird, daß man entweder die zwei obersten Töne, oder auch zwei der mittlern Stimmen, hintereinander als eine melo- dische Fortschreitung betrachtet. Gründen sie sich auf eine Harmonie, so müssen sie auch Anzeige geben, zu welcher Harmonie sie gehören, oder gehören können. Wird ein Ton davon zu einem gewißen Accorde bestimmt, so müssen auch alle seine Stimmen zu ihm gehören. Untersucht man nun die Fortschreitung aller Stimmen, und findet, daß nicht Quinten und Octaven hintereinander folgen, die unter allen Umständen verwerf- lich, wenigstens nicht zu recommandiren sind, so muß der Harmonie Schritt oder die Mo- dulation richtig sein.
Folgten aber zwei Töne hintereinander, die sich auf keine Harmonie gründeten (was aber gar nicht denkbar ist, weil wenigstens ein Ton davon als Wechsel Note wird be- trachtet werden können) so würde auch keine richtige Modulation möglich sein. Wenn dieser Fall aber nicht eintritt, und man vermeidet die falsche Quinten und Octaven Folge, so kann man mit völliger Gewißheit den Schluß machen, daß in allen Fällen die Harmonie sich der Herrschaft der Melodie unterwerfen muß.
[Musik]
[Musik]
Durch den Gang der Stimmen in fremde Tonarten bei kurzen Melodien, wird na- tuͤrlich die harmoniſche Begleitung oft gezwungen und unfreundlich; und dieſes kurze Beiſpiel ſoll nur beweiſen, welcher verſchiedener Begleitung oder harmoniſcher Veraͤn- derungen eine Melodie faͤhig iſt, und wie durch ſolche Veraͤnderung; wenn ſie oͤcono- miſch angewendet wird, die unbedeutendſte Melodie gewinnen kann, wenn zumal noch die rhythmiſchen Schoͤnheiten und andre Huͤlfsmittel des Ausdrucks, hinzukommen.
Man hat ſich bisher viele Muͤhe gegeben, alle Faͤlle der Modulation zu beſtimmen, und Regeln auf Regeln gehaͤuft, welche Accorde moͤglicherwelſe auf einander folgen koͤnnen, und doch den Zweck: ein untruͤgliches Syſtem daruͤber aufzuſtellen, nicht erreicht. Viel ſicherer erreicht man den Zweck, wenn ein Harmonieſchritt; das heißt: die Fort- ſchreitung von einem Accorde zum andern, ſo behandelt wird, daß man entweder die zwei oberſten Toͤne, oder auch zwei der mittlern Stimmen, hintereinander als eine melo- diſche Fortſchreitung betrachtet. Gruͤnden ſie ſich auf eine Harmonie, ſo muͤſſen ſie auch Anzeige geben, zu welcher Harmonie ſie gehoͤren, oder gehoͤren koͤnnen. Wird ein Ton davon zu einem gewißen Accorde beſtimmt, ſo muͤſſen auch alle ſeine Stimmen zu ihm gehoͤren. Unterſucht man nun die Fortſchreitung aller Stimmen, und findet, daß nicht Quinten und Octaven hintereinander folgen, die unter allen Umſtaͤnden verwerf- lich, wenigſtens nicht zu recommandiren ſind, ſo muß der Harmonie Schritt oder die Mo- dulation richtig ſein.
Folgten aber zwei Toͤne hintereinander, die ſich auf keine Harmonie gruͤndeten (was aber gar nicht denkbar iſt, weil wenigſtens ein Ton davon als Wechſel Note wird be- trachtet werden koͤnnen) ſo wuͤrde auch keine richtige Modulation moͤglich ſein. Wenn dieſer Fall aber nicht eintritt, und man vermeidet die falſche Quinten und Octaven Folge, ſo kann man mit voͤlliger Gewißheit den Schluß machen, daß in allen Faͤllen die Harmonie ſich der Herrſchaft der Melodie unterwerfen muß.
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Durch den Gang der Stimmen in fremde Tonarten bei kurzen Melodien, wird na-
tuͤrlich die harmoniſche Begleitung oft gezwungen und unfreundlich; und dieſes kurze
Beiſpiel ſoll nur beweiſen, welcher verſchiedener Begleitung oder harmoniſcher Veraͤn-
derungen eine Melodie faͤhig iſt, und wie durch ſolche Veraͤnderung; wenn ſie oͤcono-
miſch angewendet wird, die unbedeutendſte Melodie gewinnen kann, wenn zumal noch
die rhythmiſchen Schoͤnheiten und andre Huͤlfsmittel des Ausdrucks, hinzukommen.
Man hat ſich bisher viele Muͤhe gegeben, alle Faͤlle der Modulation zu beſtimmen,
und Regeln auf Regeln gehaͤuft, welche Accorde moͤglicherwelſe auf einander folgen
koͤnnen, und doch den Zweck: ein untruͤgliches Syſtem daruͤber aufzuſtellen, nicht erreicht.
Viel ſicherer erreicht man den Zweck, wenn ein Harmonieſchritt; das heißt: die Fort-
ſchreitung von einem Accorde zum andern, ſo behandelt wird, daß man entweder die zwei
oberſten Toͤne, oder auch zwei der mittlern Stimmen, hintereinander als eine melo-
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auch Anzeige geben, zu welcher Harmonie ſie gehoͤren, oder gehoͤren koͤnnen. Wird
ein Ton davon zu einem gewißen Accorde beſtimmt, ſo muͤſſen auch alle ſeine Stimmen
zu ihm gehoͤren. Unterſucht man nun die Fortſchreitung aller Stimmen, und findet, daß
nicht Quinten und Octaven hintereinander folgen, die unter allen Umſtaͤnden verwerf-
lich, wenigſtens nicht zu recommandiren ſind, ſo muß der Harmonie Schritt oder die Mo-
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Folgten aber zwei Toͤne hintereinander, die ſich auf keine Harmonie gruͤndeten (was
aber gar nicht denkbar iſt, weil wenigſtens ein Ton davon als Wechſel Note wird be-
trachtet werden koͤnnen) ſo wuͤrde auch keine richtige Modulation moͤglich ſein. Wenn
dieſer Fall aber nicht eintritt, und man vermeidet die falſche Quinten und Octaven
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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/76>, abgerufen am 16.07.2024.
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