Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.größten Scharfsinne aber kann sich uns doch die Frage aufdrängen, durch welche tech- Schon im Kapitel: vom Rhythmus ist bemerkt worden, daß vor allen andern die groͤßten Scharfſinne aber kann ſich uns doch die Frage aufdraͤngen, durch welche tech- Schon im Kapitel: vom Rhythmus iſt bemerkt worden, daß vor allen andern die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0265" n="247"/> groͤßten Scharfſinne aber kann ſich uns doch die Frage aufdraͤngen, durch <hi rendition="#g">welche tech-<lb/> niſche Theile</hi> der Ausdruck bewirkt wird und <hi rendition="#g">wie</hi> er beſchaffen ſein muß, wenn er<lb/> Anſpruch auf die hoͤchſte Idealitaͤt machen will.</p><lb/> <p>Schon im Kapitel: <hi rendition="#g">vom Rhythmus</hi> iſt bemerkt worden, daß vor allen andern die<lb/> Gattung des Muſikſtuͤcks und der Charakter deßelben feſtgeſtellt ſein muß, ob der<lb/> Hauptcharacter ſich <hi rendition="#g">uͤber das ganze Stuͤck</hi> verbreiten ſoll, oder ob der Zweck oder<lb/> der Inhalt eines Textes ſo beſchaffen iſt, daß verſchiedene von einander abweichende Ge-<lb/> fuͤhle es erfordern, auf den Ausdruck <hi rendition="#g">beſondrer Stellen</hi> das Augenmerk zu richten;<lb/> denn es iſt nicht gleichviel, eine Muſik zu ſchaffen, der eben ſo gut der Inhalt einer co-<lb/> miſchen Oper als der Text einer Paßionsgeſchichte untergelegt werden kann. Sind dieſe<lb/> Fragen feſtgeſtellt, ſo iſt es noͤthig nunmehro ſeine Zuflucht zu den Huͤlfsmitteln der<lb/> Muſik, die ſehr mannigfaltig ſind, zu nehmen. Das erſte iſt: das Thema in Betreff<lb/> der Melodie, Harmonie und Rhythmus ſo zu erfinden, daß es dem Zwecke angemeſſen iſt.<lb/> Die Erfahrung muß die Wahl der Tonart, der Harmonieſchritte, der Melodie und des<lb/> Rhythmus leiten, denn wir wißen daß die Traurigkeit durch die Moll-Tonarten, eine<lb/> einfache Melodie, ein langſames Tempo und einen einfachen Rhythmus; die Freude aber<lb/> durch ein lebhaftes Tempo, in Dur-Tonerten, durch ungezwungene Harmonie-Schritte,<lb/> leichte gefaͤllige Melodie und lebhaften Rhythmus auszudruͤcken iſt, wir erinnern uns der<lb/> Eindruͤcke, die ſich unſerm Gefuͤhle irgend einmal durch gewiße Toͤne eingepraͤgt haben,<lb/> als des Geſanges bei einem Begraͤbniſſe oder einer religioͤſen Gelegenheit, der Toͤne des<lb/> Sturmes, des Geſanges eines in Gram verſunkenen Menſchen ꝛc., und fuͤhlen genau,<lb/> wie ſich auch ein erzuͤrnter, ein in Zaͤrtlichkeit ſchmachtender entzuͤckter Menſch ausdruͤck-<lb/> ken <hi rendition="#g">wuͤrde, wenn er ſaͤnge</hi>, wir haben eine Ahnung des Ausdrucks der Geiſter, de-<lb/> ren hohle dumpfe Toͤne uns in der Ballade oder dem Romane geſchildert worden ſind,<lb/> kurz, wir haben keinen Fall, wo ſich eine Lage des menſchlichen Lebens <hi rendition="#g">nicht</hi> ausdruͤcken<lb/> ließe; aber in <hi rendition="#g">welchen Grade</hi> wir dies empfinden und mit <hi rendition="#g">welcher moͤglichen<lb/> Klarheit</hi> wir dieſen unkoͤrperlichen Vorſtellungen ihr Daſein geben, daß ſie bei andern<lb/> ein noch nicht gehabtes Gefuͤhl erregen, dies iſt die große Aufgabe, die unſre Urtheils-<lb/> kraft noch nicht ganz geloͤßt hat; denn vor Erſchaffung des Hamlet, des Macbeth, der<lb/> Leonore, waren dieſe Vorſtellungen von ihnen noch nicht da, und ſie erhielten ihr Da-<lb/> ſein erſt durch die Art und Weiſe, wie Shakespeare und Buͤrger ſie in ſo außeror-<lb/> dentlichen Situationen entſtehen ließen. Lebloſe Gegenſtaͤnde laßen keinen Ausdruck ihrer<lb/> Vorſtellung zu, auch nicht alle die ſich durch Toͤne bemerkbar machen, die Thiere z. B.<lb/> das Pferd durch das Wiehern ꝛc.. Dergleichen Ausdruͤcke gehoͤren zur muſikaliſchen Ma-<lb/> lerei, von welchen zu wuͤnſchen waͤre, daß ſie vom Ausdruck in der Muſik ausgeſchloßen<lb/> bleiben moͤchten. Der Geſchmack, das Gefuͤhl, und die Urtheilskraft muͤßen hierinnen<lb/> Richter ſein. Welche Harmonien, welche Melodien und welche rhythmiſche Formen an-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [247/0265]
groͤßten Scharfſinne aber kann ſich uns doch die Frage aufdraͤngen, durch welche tech-
niſche Theile der Ausdruck bewirkt wird und wie er beſchaffen ſein muß, wenn er
Anſpruch auf die hoͤchſte Idealitaͤt machen will.
Schon im Kapitel: vom Rhythmus iſt bemerkt worden, daß vor allen andern die
Gattung des Muſikſtuͤcks und der Charakter deßelben feſtgeſtellt ſein muß, ob der
Hauptcharacter ſich uͤber das ganze Stuͤck verbreiten ſoll, oder ob der Zweck oder
der Inhalt eines Textes ſo beſchaffen iſt, daß verſchiedene von einander abweichende Ge-
fuͤhle es erfordern, auf den Ausdruck beſondrer Stellen das Augenmerk zu richten;
denn es iſt nicht gleichviel, eine Muſik zu ſchaffen, der eben ſo gut der Inhalt einer co-
miſchen Oper als der Text einer Paßionsgeſchichte untergelegt werden kann. Sind dieſe
Fragen feſtgeſtellt, ſo iſt es noͤthig nunmehro ſeine Zuflucht zu den Huͤlfsmitteln der
Muſik, die ſehr mannigfaltig ſind, zu nehmen. Das erſte iſt: das Thema in Betreff
der Melodie, Harmonie und Rhythmus ſo zu erfinden, daß es dem Zwecke angemeſſen iſt.
Die Erfahrung muß die Wahl der Tonart, der Harmonieſchritte, der Melodie und des
Rhythmus leiten, denn wir wißen daß die Traurigkeit durch die Moll-Tonarten, eine
einfache Melodie, ein langſames Tempo und einen einfachen Rhythmus; die Freude aber
durch ein lebhaftes Tempo, in Dur-Tonerten, durch ungezwungene Harmonie-Schritte,
leichte gefaͤllige Melodie und lebhaften Rhythmus auszudruͤcken iſt, wir erinnern uns der
Eindruͤcke, die ſich unſerm Gefuͤhle irgend einmal durch gewiße Toͤne eingepraͤgt haben,
als des Geſanges bei einem Begraͤbniſſe oder einer religioͤſen Gelegenheit, der Toͤne des
Sturmes, des Geſanges eines in Gram verſunkenen Menſchen ꝛc., und fuͤhlen genau,
wie ſich auch ein erzuͤrnter, ein in Zaͤrtlichkeit ſchmachtender entzuͤckter Menſch ausdruͤck-
ken wuͤrde, wenn er ſaͤnge, wir haben eine Ahnung des Ausdrucks der Geiſter, de-
ren hohle dumpfe Toͤne uns in der Ballade oder dem Romane geſchildert worden ſind,
kurz, wir haben keinen Fall, wo ſich eine Lage des menſchlichen Lebens nicht ausdruͤcken
ließe; aber in welchen Grade wir dies empfinden und mit welcher moͤglichen
Klarheit wir dieſen unkoͤrperlichen Vorſtellungen ihr Daſein geben, daß ſie bei andern
ein noch nicht gehabtes Gefuͤhl erregen, dies iſt die große Aufgabe, die unſre Urtheils-
kraft noch nicht ganz geloͤßt hat; denn vor Erſchaffung des Hamlet, des Macbeth, der
Leonore, waren dieſe Vorſtellungen von ihnen noch nicht da, und ſie erhielten ihr Da-
ſein erſt durch die Art und Weiſe, wie Shakespeare und Buͤrger ſie in ſo außeror-
dentlichen Situationen entſtehen ließen. Lebloſe Gegenſtaͤnde laßen keinen Ausdruck ihrer
Vorſtellung zu, auch nicht alle die ſich durch Toͤne bemerkbar machen, die Thiere z. B.
das Pferd durch das Wiehern ꝛc.. Dergleichen Ausdruͤcke gehoͤren zur muſikaliſchen Ma-
lerei, von welchen zu wuͤnſchen waͤre, daß ſie vom Ausdruck in der Muſik ausgeſchloßen
bleiben moͤchten. Der Geſchmack, das Gefuͤhl, und die Urtheilskraft muͤßen hierinnen
Richter ſein. Welche Harmonien, welche Melodien und welche rhythmiſche Formen an-
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