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Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822.

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Mehrere dieser Verse (eigentlich Zeilen oder Strophen) machen ein Gedicht aus,
was oft aus mehrern in dem Versmaaße sich gleichbleibenden Abtheilungen besteht, die
man (zwar mit Unrecht) auch Verse nennt. Eine solche Abtheilung oder Vers würde
folgender sein:

In diesen heiligen Mauern
Wo Mensch den Menschen liebt,
Kann kein Verräther lauern
Weil man den Feind vergiebt.
Wem diese Lehren nicht erfreun
Verdienet nicht ein Mensch zu sein.

Außer diesen Versen, woraus nach einem gewissen Metrum und einer gewissen
Wahl der erstern zu einem symetrischen Ganzen, Gedichte gebildet werden,
giebt es eine Art von Prosa in der dramatischen Dichtkunst, von welcher die Musik in
der Oper, Gebrauch machen muß, nämlich die Recitative. Sie gehören bald der Gat-
tung des Monologs, bald des Dialogs, bald der Erzählung an, und stimmen insofern
mit der Musik überein, indem letztere eben so wenig eine symetrische Zusammensetzung
der Gedanken beobachtet als die Dichtkunst, welche vermeidet, die Verse oder Strophen
zu Abtheilungen zu ordnen.

Jede Musik soll so gut eine Empfindung erregen als die Sprache, und deshalb muß
sie die Kunst, deren sich der Schriftsteller, besonders der Dichter bedient, zum Mu-
ster wählen, denn wenn die Töne gleich nicht mit Worten begleitet werden, wie in der
Sonate, Symphonie, dem Conzert, so ist doch kein Gedanke in einem solchen Stücke, der
nicht irgend eine Leidenschaft, ein Gefühl in uns erregte, selbst wenn er ohne Intereße
oder Schönheit ist. Daher rührt es auch, daß wir eine Menge Musikstücke haben, die
aus weiter nichts als grammatikalisch geordneten Tönen ohne bestimmten Sinn und Cha-
rakter bestehen, und die uns mithin kalt laßen und kalt lassen müssen, weil unser Ge-
fühl weder besonders aufgeregt noch befriedigt wird. Und warum kehren wir immer
wieder zu denjenigen Stücken zurück, die auf unsre Gefühle einen so lebhaften Eindruck
gemacht haben und in welchen eine Sprache unsers Herzens herrscht? Ist es denn eine
größere Kunst, vielerlei Passagen und Tiraden hintereinander bunt abwechseln zu laßen,
was man oft Originalität, Neuheit, nennt; vielerlei Stimmen untereinander in Bewe-
gung zu setzen, wo jede nach einem andern Ziele, ja größtentheils nach gar keinem
läuft; oder ist es eine größere, wenn alle Theile so geordnet werden, daß sie einen To-
tal Eindruck effectuiren? Sapienti sat.


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Mehrere dieſer Verſe (eigentlich Zeilen oder Strophen) machen ein Gedicht aus,
was oft aus mehrern in dem Versmaaße ſich gleichbleibenden Abtheilungen beſteht, die
man (zwar mit Unrecht) auch Verſe nennt. Eine ſolche Abtheilung oder Vers wuͤrde
folgender ſein:

In dieſen heiligen Mauern
Wo Menſch den Menſchen liebt,
Kann kein Verraͤther lauern
Weil man den Feind vergiebt.
Wem dieſe Lehren nicht erfreun
Verdienet nicht ein Menſch zu ſein.

Außer dieſen Verſen, woraus nach einem gewiſſen Metrum und einer gewiſſen
Wahl der erſtern zu einem ſymetriſchen Ganzen, Gedichte gebildet werden,
giebt es eine Art von Proſa in der dramatiſchen Dichtkunſt, von welcher die Muſik in
der Oper, Gebrauch machen muß, naͤmlich die Recitative. Sie gehoͤren bald der Gat-
tung des Monologs, bald des Dialogs, bald der Erzaͤhlung an, und ſtimmen inſofern
mit der Muſik uͤberein, indem letztere eben ſo wenig eine ſymetriſche Zuſammenſetzung
der Gedanken beobachtet als die Dichtkunſt, welche vermeidet, die Verſe oder Strophen
zu Abtheilungen zu ordnen.

Jede Muſik ſoll ſo gut eine Empfindung erregen als die Sprache, und deshalb muß
ſie die Kunſt, deren ſich der Schriftſteller, beſonders der Dichter bedient, zum Mu-
ſter waͤhlen, denn wenn die Toͤne gleich nicht mit Worten begleitet werden, wie in der
Sonate, Symphonie, dem Conzert, ſo iſt doch kein Gedanke in einem ſolchen Stuͤcke, der
nicht irgend eine Leidenſchaft, ein Gefuͤhl in uns erregte, ſelbſt wenn er ohne Intereße
oder Schoͤnheit iſt. Daher ruͤhrt es auch, daß wir eine Menge Muſikſtuͤcke haben, die
aus weiter nichts als grammatikaliſch geordneten Toͤnen ohne beſtimmten Sinn und Cha-
rakter beſtehen, und die uns mithin kalt laßen und kalt laſſen muͤſſen, weil unſer Ge-
fuͤhl weder beſonders aufgeregt noch befriedigt wird. Und warum kehren wir immer
wieder zu denjenigen Stuͤcken zuruͤck, die auf unſre Gefuͤhle einen ſo lebhaften Eindruck
gemacht haben und in welchen eine Sprache unſers Herzens herrſcht? Iſt es denn eine
groͤßere Kunſt, vielerlei Paſſagen und Tiraden hintereinander bunt abwechſeln zu laßen,
was man oft Originalitaͤt, Neuheit, nennt; vielerlei Stimmen untereinander in Bewe-
gung zu ſetzen, wo jede nach einem andern Ziele, ja groͤßtentheils nach gar keinem
laͤuft; oder iſt es eine groͤßere, wenn alle Theile ſo geordnet werden, daß ſie einen To-
tal Eindruck effectuiren? Sapienti sat.


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[113/0131] Mehrere dieſer Verſe (eigentlich Zeilen oder Strophen) machen ein Gedicht aus, was oft aus mehrern in dem Versmaaße ſich gleichbleibenden Abtheilungen beſteht, die man (zwar mit Unrecht) auch Verſe nennt. Eine ſolche Abtheilung oder Vers wuͤrde folgender ſein: In dieſen heiligen Mauern Wo Menſch den Menſchen liebt, Kann kein Verraͤther lauern Weil man den Feind vergiebt. Wem dieſe Lehren nicht erfreun Verdienet nicht ein Menſch zu ſein. Außer dieſen Verſen, woraus nach einem gewiſſen Metrum und einer gewiſſen Wahl der erſtern zu einem ſymetriſchen Ganzen, Gedichte gebildet werden, giebt es eine Art von Proſa in der dramatiſchen Dichtkunſt, von welcher die Muſik in der Oper, Gebrauch machen muß, naͤmlich die Recitative. Sie gehoͤren bald der Gat- tung des Monologs, bald des Dialogs, bald der Erzaͤhlung an, und ſtimmen inſofern mit der Muſik uͤberein, indem letztere eben ſo wenig eine ſymetriſche Zuſammenſetzung der Gedanken beobachtet als die Dichtkunſt, welche vermeidet, die Verſe oder Strophen zu Abtheilungen zu ordnen. Jede Muſik ſoll ſo gut eine Empfindung erregen als die Sprache, und deshalb muß ſie die Kunſt, deren ſich der Schriftſteller, beſonders der Dichter bedient, zum Mu- ſter waͤhlen, denn wenn die Toͤne gleich nicht mit Worten begleitet werden, wie in der Sonate, Symphonie, dem Conzert, ſo iſt doch kein Gedanke in einem ſolchen Stuͤcke, der nicht irgend eine Leidenſchaft, ein Gefuͤhl in uns erregte, ſelbſt wenn er ohne Intereße oder Schoͤnheit iſt. Daher ruͤhrt es auch, daß wir eine Menge Muſikſtuͤcke haben, die aus weiter nichts als grammatikaliſch geordneten Toͤnen ohne beſtimmten Sinn und Cha- rakter beſtehen, und die uns mithin kalt laßen und kalt laſſen muͤſſen, weil unſer Ge- fuͤhl weder beſonders aufgeregt noch befriedigt wird. Und warum kehren wir immer wieder zu denjenigen Stuͤcken zuruͤck, die auf unſre Gefuͤhle einen ſo lebhaften Eindruck gemacht haben und in welchen eine Sprache unſers Herzens herrſcht? Iſt es denn eine groͤßere Kunſt, vielerlei Paſſagen und Tiraden hintereinander bunt abwechſeln zu laßen, was man oft Originalitaͤt, Neuheit, nennt; vielerlei Stimmen untereinander in Bewe- gung zu ſetzen, wo jede nach einem andern Ziele, ja groͤßtentheils nach gar keinem laͤuft; oder iſt es eine groͤßere, wenn alle Theile ſo geordnet werden, daß ſie einen To- tal Eindruck effectuiren? Sapienti sat. P

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Zitationshilfe: Siegmeyer, Johann Gottlieb: Theorie der Tonsetzkunst. Berlin, 1822, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siegmeyer_tonsetzkunst_1822/131>, abgerufen am 22.11.2024.