Stunde wahren Genusses. Der Mann hat mich mit sei¬ nen Gesinnungen und seiner Handelsweise sehr inte¬ ressiert. Er hatte eben Geschäfte, und ich konnte da¬ her seine offene Ungezwungenheit desto besser bemer¬ ken: denn er besorgte sie so leicht, als ob er allein gewesen wäre, ohne uns dabey zu vernachlässigen. Wer in den Zimmern eines solchen Mannes lange Weile hat, für den ist keine Rettung. Er hatte so eben seinen Achilles bey dem Leichnam des Patroklus vollendet, der auch nun gezeichnet und in Kupfer gestochen werden soll. Ich hatte die Stelle nur noch einige Tage vorher in meinem Homer gelesen; Du kannst also denken, mit welcher Begierde ich an dem Stücke hing. Es ist ein bezauberndes Bild. Der junge Held in Lebensgrösse bey dem Todten, der bis an die Brust neben ihm sichtbar ist, scheint sich so eben von seinem tiefesten Schmerz zu erholen und Rache zu beschliessen. Die Figur ist ganz nackt, und scheint mir ein Meisterstück der Färbung und Zeich¬ nung; aber der Kopf ist göttlich. Du weisst, ich bin nicht Enthusiast; aber ich konnte mich kaum im An¬ schauen sättigen. Wenn meine Stimme etwas gelten könnte, würde ich mit der himlisch jugendlichen Schönheit des Gesichts nicht ganz zufrieden seyn. Der Held, der hier vorgestellt werden sollte, ist nicht mehr der Jüngling, den Ulysses unter den Töchtern Lykomeds hervorsuchte: es ist der Pelide, der schon gefochten und gezürnt hat, der schon das Schrecken der Trojaner war. Um dieses zu seyn, scheint mir der Kopf noch zu viel aus dem Gynäceum zu haben. Mich däucht, der Mann sollte schon etwas vollende¬
Stunde wahren Genusses. Der Mann hat mich mit sei¬ nen Gesinnungen und seiner Handelsweise sehr inte¬ ressiert. Er hatte eben Geschäfte, und ich konnte da¬ her seine offene Ungezwungenheit desto besser bemer¬ ken: denn er besorgte sie so leicht, als ob er allein gewesen wäre, ohne uns dabey zu vernachlässigen. Wer in den Zimmern eines solchen Mannes lange Weile hat, für den ist keine Rettung. Er hatte so eben seinen Achilles bey dem Leichnam des Patroklus vollendet, der auch nun gezeichnet und in Kupfer gestochen werden soll. Ich hatte die Stelle nur noch einige Tage vorher in meinem Homer gelesen; Du kannst also denken, mit welcher Begierde ich an dem Stücke hing. Es ist ein bezauberndes Bild. Der junge Held in Lebensgröſse bey dem Todten, der bis an die Brust neben ihm sichtbar ist, scheint sich so eben von seinem tiefesten Schmerz zu erholen und Rache zu beschlieſsen. Die Figur ist ganz nackt, und scheint mir ein Meisterstück der Färbung und Zeich¬ nung; aber der Kopf ist göttlich. Du weiſst, ich bin nicht Enthusiast; aber ich konnte mich kaum im An¬ schauen sättigen. Wenn meine Stimme etwas gelten könnte, würde ich mit der himlisch jugendlichen Schönheit des Gesichts nicht ganz zufrieden seyn. Der Held, der hier vorgestellt werden sollte, ist nicht mehr der Jüngling, den Ulysses unter den Töchtern Lykomeds hervorsuchte: es ist der Pelide, der schon gefochten und gezürnt hat, der schon das Schrecken der Trojaner war. Um dieses zu seyn, scheint mir der Kopf noch zu viel aus dem Gynäceum zu haben. Mich däucht, der Mann sollte schon etwas vollende¬
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Stunde wahren Genusses. Der Mann hat mich mit sei¬
nen Gesinnungen und seiner Handelsweise sehr inte¬
ressiert. Er hatte eben Geschäfte, und ich konnte da¬
her seine offene Ungezwungenheit desto besser bemer¬
ken: denn er besorgte sie so leicht, als ob er allein
gewesen wäre, ohne uns dabey zu vernachlässigen.
Wer in den Zimmern eines solchen Mannes lange
Weile hat, für den ist keine Rettung. Er hatte so
eben seinen Achilles bey dem Leichnam des Patroklus
vollendet, der auch nun gezeichnet und in Kupfer
gestochen werden soll. Ich hatte die Stelle nur noch
einige Tage vorher in meinem Homer gelesen; Du
kannst also denken, mit welcher Begierde ich an dem
Stücke hing. Es ist ein bezauberndes Bild. Der
junge Held in Lebensgröſse bey dem Todten, der bis
an die Brust neben ihm sichtbar ist, scheint sich so
eben von seinem tiefesten Schmerz zu erholen und
Rache zu beschlieſsen. Die Figur ist ganz nackt, und
scheint mir ein Meisterstück der Färbung und Zeich¬
nung; aber der Kopf ist göttlich. Du weiſst, ich bin
nicht Enthusiast; aber ich konnte mich kaum im An¬
schauen sättigen. Wenn meine Stimme etwas gelten
könnte, würde ich mit der himlisch jugendlichen
Schönheit des Gesichts nicht ganz zufrieden seyn. Der
Held, der hier vorgestellt werden sollte, ist nicht
mehr der Jüngling, den Ulysses unter den Töchtern
Lykomeds hervorsuchte: es ist der Pelide, der schon
gefochten und gezürnt hat, der schon das Schrecken
der Trojaner war. Um dieses zu seyn, scheint mir
der Kopf noch zu viel aus dem Gynäceum zu haben.
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/53>, abgerufen am 22.11.2024.
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