und doch ist sie nicht ungewöhnlich. Es giebt zuwei len glückliche Geister, deren mündlicher extemporä rer Vortrag besser ist, als ihre gesichtetste Schrift: aber dieses kann nicht zur Regel dienen.
Ich ging zu Herrn Millin, weil ich dort Briefe zu finden hoffte. Diese fand ich zwar nicht, aber man hatte ihm meinen Namen genannt und er nahm mich sehr freundlich auf; und ich bin, so wie ich ihn nun kenne, versichert, ich würde auch ohne diess freund¬ lich aufgenommen worden seyn. Millin ist für die Fremden, die in literarischer Absicht Paris besuchen, eine wahre Wohlthat. Der Mann hat eine grosse Peri¬ pherie von Kenntnissen, die ächte französische Heiterkeit, selbst eine schöne Büchersammlung in vielen Fächern und aus vielen Sprachen, und eine seltene Humanität. Mehrere junge Deutsche haben den Vortheil in seinen Zimmern zu arbeiten und sich seines Raths zu bedie¬ nen. Ich habe ihn oft und immer gleich jovialisch und gefällig gesehen. Auf der Nationalbibliothek herrscht eine musterhafte Ordnung und eine beyspiel¬ lose Gefälligkeit gegen Fremde. Dass in der öffent¬ lichen Gerechtigkeit grosse Lücken sind, ist bekannt, und dass ihre gepriesene Freiheit täglich presshafter wird, leidet eben so wenig Zweifel. Ich hatte selbst ein Beyspielchen. Die Kaiserin Katharina die Zweyte hatte dem Papst Pius dem Sechsten ein Geschenk mit allen Russischen Goldmünzen gemacht: der Werth muss beträchtlich gewesen seyn. Diese lagen mit den übrigen Schätzen im Vatikan. Die Franzosen nahmen sie weg, um sie nach Paris zu den übrigen Schätzen zu bringen. In Rom sind sie nicht mehr; aber dess¬
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und doch ist sie nicht ungewöhnlich. Es giebt zuwei len glückliche Geister, deren mündlicher extemporä rer Vortrag besser ist, als ihre gesichtetste Schrift: aber dieses kann nicht zur Regel dienen.
Ich ging zu Herrn Millin, weil ich dort Briefe zu finden hoffte. Diese fand ich zwar nicht, aber man hatte ihm meinen Namen genannt und er nahm mich sehr freundlich auf; und ich bin, so wie ich ihn nun kenne, versichert, ich würde auch ohne dieſs freund¬ lich aufgenommen worden seyn. Millin ist für die Fremden, die in literarischer Absicht Paris besuchen, eine wahre Wohlthat. Der Mann hat eine groſse Peri¬ pherie von Kenntnissen, die ächte französische Heiterkeit, selbst eine schöne Büchersammlung in vielen Fächern und aus vielen Sprachen, und eine seltene Humanität. Mehrere junge Deutsche haben den Vortheil in seinen Zimmern zu arbeiten und sich seines Raths zu bedie¬ nen. Ich habe ihn oft und immer gleich jovialisch und gefällig gesehen. Auf der Nationalbibliothek herrscht eine musterhafte Ordnung und eine beyspiel¬ lose Gefälligkeit gegen Fremde. Daſs in der öffent¬ lichen Gerechtigkeit groſse Lücken sind, ist bekannt, und daſs ihre gepriesene Freiheit täglich preſshafter wird, leidet eben so wenig Zweifel. Ich hatte selbst ein Beyspielchen. Die Kaiserin Katharina die Zweyte hatte dem Papst Pius dem Sechsten ein Geschenk mit allen Russischen Goldmünzen gemacht: der Werth muſs beträchtlich gewesen seyn. Diese lagen mit den übrigen Schätzen im Vatikan. Die Franzosen nahmen sie weg, um sie nach Paris zu den übrigen Schätzen zu bringen. In Rom sind sie nicht mehr; aber deſs¬
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und doch ist sie nicht ungewöhnlich. Es giebt zuwei
len glückliche Geister, deren mündlicher extemporä
rer Vortrag besser ist, als ihre gesichtetste Schrift: aber
dieses kann nicht zur Regel dienen.
Ich ging zu Herrn Millin, weil ich dort Briefe
zu finden hoffte. Diese fand ich zwar nicht, aber man
hatte ihm meinen Namen genannt und er nahm mich
sehr freundlich auf; und ich bin, so wie ich ihn nun
kenne, versichert, ich würde auch ohne dieſs freund¬
lich aufgenommen worden seyn. Millin ist für die
Fremden, die in literarischer Absicht Paris besuchen,
eine wahre Wohlthat. Der Mann hat eine groſse Peri¬
pherie von Kenntnissen, die ächte französische Heiterkeit,
selbst eine schöne Büchersammlung in vielen Fächern
und aus vielen Sprachen, und eine seltene Humanität.
Mehrere junge Deutsche haben den Vortheil in seinen
Zimmern zu arbeiten und sich seines Raths zu bedie¬
nen. Ich habe ihn oft und immer gleich jovialisch
und gefällig gesehen. Auf der Nationalbibliothek
herrscht eine musterhafte Ordnung und eine beyspiel¬
lose Gefälligkeit gegen Fremde. Daſs in der öffent¬
lichen Gerechtigkeit groſse Lücken sind, ist bekannt,
und daſs ihre gepriesene Freiheit täglich preſshafter
wird, leidet eben so wenig Zweifel. Ich hatte selbst
ein Beyspielchen. Die Kaiserin Katharina die Zweyte
hatte dem Papst Pius dem Sechsten ein Geschenk mit
allen Russischen Goldmünzen gemacht: der Werth
muſs beträchtlich gewesen seyn. Diese lagen mit den
übrigen Schätzen im Vatikan. Die Franzosen nahmen
sie weg, um sie nach Paris zu den übrigen Schätzen
zu bringen. In Rom sind sie nicht mehr; aber deſs¬
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 447 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/475>, abgerufen am 22.11.2024.
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