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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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Dorf war ziemlich gross und als ich gegen Abend noch
einen Gang an den Gärten und Wiesen hin machte,
hörte ich in der Ferne an einem kleinen buschigen
Abhange einen Gesang, der mich lockte. Das war mir
in ganz Italien nicht begegnet; und als ich näher kam
hörte ich eine schöne einfache ländliche Melodie zu ei¬
nem deutschen Texte, den ich für ein Gedicht von
Matthison hielt. Die Sängerinnen waren drey Mäd¬
chen, die man wohl in der schönen Abendröthe für
Grazien hätte nehmen können. Die Zuhörer mehrten
sich und ich war so heimisch, als ob ich an den Ufern
der Saale gesessen hätte.

Nun ging ich über Besancon und Auxonne nach
Dijon herunter. Es war ein Vergnügen zu wandeln;
überall sahe man Fleiss und zuweilen auch Wohlstand.
Wenigstens war nirgends der drückende Mangel und
die exorbitante Theurung, die man jenseits der Alpen
fand: und doch hatte hier die Revolution gewüthet
und der Krieg gezehrt. Besancon ist wohl mehr ein
Waffenplatz als eine Festung. Wenigstens würde bey
einer Belagerung die Stadt bald zu Grunde gehen und
der Ort sich kaum halten. In Auxonne wurden alle
Festungswerke niedergerissen, und jedermann ging
und ritt und fuhr ungehindert und ungefragt aus und
ein. Das fand ich selbst gegen die Schweiz sehr libe¬
ral. Einen Abend blieb ich in Genlis, dem Gute der
bekannten Schriftstellerin. Die Besitzung ist sehr nett,
aber sehr bescheiden; und die Dame wird trotz allem
was ihre Feinde von ihr sagen hier sehr geliebt.

Dijon hat ungefähr eine Stunde im Umfange und
rund um die Stadt einen ziemlich angenehmen Spa¬

Dorf war ziemlich groſs und als ich gegen Abend noch
einen Gang an den Gärten und Wiesen hin machte,
hörte ich in der Ferne an einem kleinen buschigen
Abhange einen Gesang, der mich lockte. Das war mir
in ganz Italien nicht begegnet; und als ich näher kam
hörte ich eine schöne einfache ländliche Melodie zu ei¬
nem deutschen Texte, den ich für ein Gedicht von
Matthison hielt. Die Sängerinnen waren drey Mäd¬
chen, die man wohl in der schönen Abendröthe für
Grazien hätte nehmen können. Die Zuhörer mehrten
sich und ich war so heimisch, als ob ich an den Ufern
der Saale gesessen hätte.

Nun ging ich über Besançon und Auxonne nach
Dijon herunter. Es war ein Vergnügen zu wandeln;
überall sahe man Fleiſs und zuweilen auch Wohlstand.
Wenigstens war nirgends der drückende Mangel und
die exorbitante Theurung, die man jenseits der Alpen
fand: und doch hatte hier die Revolution gewüthet
und der Krieg gezehrt. Besançon ist wohl mehr ein
Waffenplatz als eine Festung. Wenigstens würde bey
einer Belagerung die Stadt bald zu Grunde gehen und
der Ort sich kaum halten. In Auxonne wurden alle
Festungswerke niedergerissen, und jedermann ging
und ritt und fuhr ungehindert und ungefragt aus und
ein. Das fand ich selbst gegen die Schweiz sehr libe¬
ral. Einen Abend blieb ich in Genlis, dem Gute der
bekannten Schriftstellerin. Die Besitzung ist sehr nett,
aber sehr bescheiden; und die Dame wird trotz allem
was ihre Feinde von ihr sagen hier sehr geliebt.

Dijon hat ungefähr eine Stunde im Umfange und
rund um die Stadt einen ziemlich angenehmen Spa¬

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[439 /0467] Dorf war ziemlich groſs und als ich gegen Abend noch einen Gang an den Gärten und Wiesen hin machte, hörte ich in der Ferne an einem kleinen buschigen Abhange einen Gesang, der mich lockte. Das war mir in ganz Italien nicht begegnet; und als ich näher kam hörte ich eine schöne einfache ländliche Melodie zu ei¬ nem deutschen Texte, den ich für ein Gedicht von Matthison hielt. Die Sängerinnen waren drey Mäd¬ chen, die man wohl in der schönen Abendröthe für Grazien hätte nehmen können. Die Zuhörer mehrten sich und ich war so heimisch, als ob ich an den Ufern der Saale gesessen hätte. Nun ging ich über Besançon und Auxonne nach Dijon herunter. Es war ein Vergnügen zu wandeln; überall sahe man Fleiſs und zuweilen auch Wohlstand. Wenigstens war nirgends der drückende Mangel und die exorbitante Theurung, die man jenseits der Alpen fand: und doch hatte hier die Revolution gewüthet und der Krieg gezehrt. Besançon ist wohl mehr ein Waffenplatz als eine Festung. Wenigstens würde bey einer Belagerung die Stadt bald zu Grunde gehen und der Ort sich kaum halten. In Auxonne wurden alle Festungswerke niedergerissen, und jedermann ging und ritt und fuhr ungehindert und ungefragt aus und ein. Das fand ich selbst gegen die Schweiz sehr libe¬ ral. Einen Abend blieb ich in Genlis, dem Gute der bekannten Schriftstellerin. Die Besitzung ist sehr nett, aber sehr bescheiden; und die Dame wird trotz allem was ihre Feinde von ihr sagen hier sehr geliebt. Dijon hat ungefähr eine Stunde im Umfange und rund um die Stadt einen ziemlich angenehmen Spa¬

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 439 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/467>, abgerufen am 22.11.2024.