hier der goldenen Freyheit nicht durchaus ausseror¬ dentlich hold zu seyn. Einer meiner Bekannten be¬ gleitete mich etwas durch die Stadt und unter andern auch in die Kathedrale. Hinter der kunstreichen Krypte des heiligen Borromeus steht in einer Nische der geschundene heilige Bartholomeus, mit der Haut auf den Schultern hangend. Er gilt für eine grässlich schöne Anatomie. Der Italiäner stand und betrachtete ihn einige Minuten: das sind wir, sagte er endlich; die Augen hat man uns gelassen, damit wir unser Elend sehen können. Die Franzosen machen eine schöne Parade vor dem Pallast der Republik: nur wird es mir schwer, die allgewaltigen Sieger in ihnen zu er¬ kennen, vor denen Europa gezittert hat. Das alte weitläufige Schloss vor der Stadt wird sehr verengt und vor demselben der Platz Bonaparte gemacht: jetzt ist dort noch alles wüste und leer.
Vor allen Dingen besuchte ich noch das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci in dem Kloster der heiligen Maria. Das Kloster ist jetzt leer, und das Refektorium, wo das Gemälde an der Wand ist, war während der Revolution, wie man sagt, eini¬ ge Zeit sogar ein Pferdestall. Das Stück ist einige Mal restauriert, Volpato hat es zuletzt gezeichnet und Morghen gestochen, und wahrscheinlich ist der Stich, der für ein Meisterstück der Kunst gilt, auch bey euch schon zu haben: Du magst ihn also sehen und urtheilen. Ich sah ihn in Rom zum ersten Mal. Auch in dem verfallenen Zustande ist mir das Origi¬ nal noch weit lieber als der Stich, so schön auch die¬ ser ist. Volpato ist vielleicht etwas willkührlich bey
hier der goldenen Freyheit nicht durchaus auſseror¬ dentlich hold zu seyn. Einer meiner Bekannten be¬ gleitete mich etwas durch die Stadt und unter andern auch in die Kathedrale. Hinter der kunstreichen Krypte des heiligen Borromeus steht in einer Nische der geschundene heilige Bartholomeus, mit der Haut auf den Schultern hangend. Er gilt für eine gräſslich schöne Anatomie. Der Italiäner stand und betrachtete ihn einige Minuten: das sind wir, sagte er endlich; die Augen hat man uns gelassen, damit wir unser Elend sehen können. Die Franzosen machen eine schöne Parade vor dem Pallast der Republik: nur wird es mir schwer, die allgewaltigen Sieger in ihnen zu er¬ kennen, vor denen Europa gezittert hat. Das alte weitläufige Schloſs vor der Stadt wird sehr verengt und vor demselben der Platz Bonaparte gemacht: jetzt ist dort noch alles wüste und leer.
Vor allen Dingen besuchte ich noch das berühmte Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci in dem Kloster der heiligen Maria. Das Kloster ist jetzt leer, und das Refektorium, wo das Gemälde an der Wand ist, war während der Revolution, wie man sagt, eini¬ ge Zeit sogar ein Pferdestall. Das Stück ist einige Mal restauriert, Volpato hat es zuletzt gezeichnet und Morghen gestochen, und wahrscheinlich ist der Stich, der für ein Meisterstück der Kunst gilt, auch bey euch schon zu haben: Du magst ihn also sehen und urtheilen. Ich sah ihn in Rom zum ersten Mal. Auch in dem verfallenen Zustande ist mir das Origi¬ nal noch weit lieber als der Stich, so schön auch die¬ ser ist. Volpato ist vielleicht etwas willkührlich bey
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hier der goldenen Freyheit nicht durchaus auſseror¬
dentlich hold zu seyn. Einer meiner Bekannten be¬
gleitete mich etwas durch die Stadt und unter andern
auch in die Kathedrale. Hinter der kunstreichen
Krypte des heiligen Borromeus steht in einer Nische
der geschundene heilige Bartholomeus, mit der Haut
auf den Schultern hangend. Er gilt für eine gräſslich
schöne Anatomie. Der Italiäner stand und betrachtete
ihn einige Minuten: das sind wir, sagte er endlich;
die Augen hat man uns gelassen, damit wir unser
Elend sehen können. Die Franzosen machen eine
schöne Parade vor dem Pallast der Republik: nur wird
es mir schwer, die allgewaltigen Sieger in ihnen zu er¬
kennen, vor denen Europa gezittert hat. Das alte
weitläufige Schloſs vor der Stadt wird sehr verengt
und vor demselben der Platz Bonaparte gemacht: jetzt
ist dort noch alles wüste und leer.
Vor allen Dingen besuchte ich noch das berühmte
Abendmahlsgemälde von Leonardo da Vinci in dem
Kloster der heiligen Maria. Das Kloster ist jetzt leer,
und das Refektorium, wo das Gemälde an der Wand
ist, war während der Revolution, wie man sagt, eini¬
ge Zeit sogar ein Pferdestall. Das Stück ist einige
Mal restauriert, Volpato hat es zuletzt gezeichnet und
Morghen gestochen, und wahrscheinlich ist der Stich,
der für ein Meisterstück der Kunst gilt, auch bey
euch schon zu haben: Du magst ihn also sehen und
urtheilen. Ich sah ihn in Rom zum ersten Mal.
Auch in dem verfallenen Zustande ist mir das Origi¬
nal noch weit lieber als der Stich, so schön auch die¬
ser ist. Volpato ist vielleicht etwas willkührlich bey
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 404 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/432>, abgerufen am 22.11.2024.
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