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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803.

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verstümmelt, wie wir ihn jetzt haben. So stelle ich
mir die Sache vor. Und gesetzt die wichtigen Bruch¬
stücke fänden sich noch irgendwo in einem sel¬
tenen Exemplar unter einem Aschenhaufen des Vul¬
kans, so kannst Du, aus der Analogie der neuen Herr¬
scher mit den alten, ziemlich sicher darauf rechnen,
dass wir die Schätze nicht erhalten werden; zumahl
bey dem erneuerten und vergrösserten Argwohn, der
seit einigen Jahrzehenden zwischen den Machthabern
und den Beherrschten Statt hat. Wenn ich mich irre,
soll es mir lieb seyn; denn ich wollte drey Fussreisen
von der Elbe an den Liris machen, um dort von dem
Livius den Spartakus zu lesen, den ich für einen der
grössten und besten römischen Feldherren zu halten
in Gefahr bin.

Unter diesen Ueberlegungen, deren Konsequenz
ich Dir überlasse, wandelte ich die Strasse nach Ro¬
vigo fort. Diese Seite von Venedig ist nicht halb so
schön als die andere von Treviso nach Mestre: die
Ueberschwemmungen mit dem neuen Regenwasser hat¬
ten die Wege traurig zugerichtet, und ich zog sehr
schwer durch den fetten Boden Italiens weiter. Ueber¬
all war der Segen des Himmels mit Verschwendung
über die Gegend ausgeschüttet, und überall war in
den Hütten die jämmerlichste Armuth. Vermuthlich
war diess noch mit Folge des Kriegs. Nicht weit von
Montselice kehrte ich zu Mittage an der Strasse in ei¬
nem Wirthshause ein, das nicht die schlimmste Miene
hatte, und fand nichts, durchaus nichts, als etwas
Wein. Ich wartete eine halbe Stunde und wollte viel
zahlen, wenn man mir aus den benachbarten Häusern

verstümmelt, wie wir ihn jetzt haben. So stelle ich
mir die Sache vor. Und gesetzt die wichtigen Bruch¬
stücke fänden sich noch irgendwo in einem sel¬
tenen Exemplar unter einem Aschenhaufen des Vul¬
kans, so kannst Du, aus der Analogie der neuen Herr¬
scher mit den alten, ziemlich sicher darauf rechnen,
daſs wir die Schätze nicht erhalten werden; zumahl
bey dem erneuerten und vergröſserten Argwohn, der
seit einigen Jahrzehenden zwischen den Machthabern
und den Beherrschten Statt hat. Wenn ich mich irre,
soll es mir lieb seyn; denn ich wollte drey Fuſsreisen
von der Elbe an den Liris machen, um dort von dem
Livius den Spartakus zu lesen, den ich für einen der
gröſsten und besten römischen Feldherren zu halten
in Gefahr bin.

Unter diesen Ueberlegungen, deren Konsequenz
ich Dir überlasse, wandelte ich die Straſse nach Ro¬
vigo fort. Diese Seite von Venedig ist nicht halb so
schön als die andere von Treviso nach Mestre: die
Ueberschwemmungen mit dem neuen Regenwasser hat¬
ten die Wege traurig zugerichtet, und ich zog sehr
schwer durch den fetten Boden Italiens weiter. Ueber¬
all war der Segen des Himmels mit Verschwendung
über die Gegend ausgeschüttet, und überall war in
den Hütten die jämmerlichste Armuth. Vermuthlich
war dieſs noch mit Folge des Kriegs. Nicht weit von
Montselice kehrte ich zu Mittage an der Straſse in ei¬
nem Wirthshause ein, das nicht die schlimmste Miene
hatte, und fand nichts, durchaus nichts, als etwas
Wein. Ich wartete eine halbe Stunde und wollte viel
zahlen, wenn man mir aus den benachbarten Häusern

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[109/0135] verstümmelt, wie wir ihn jetzt haben. So stelle ich mir die Sache vor. Und gesetzt die wichtigen Bruch¬ stücke fänden sich noch irgendwo in einem sel¬ tenen Exemplar unter einem Aschenhaufen des Vul¬ kans, so kannst Du, aus der Analogie der neuen Herr¬ scher mit den alten, ziemlich sicher darauf rechnen, daſs wir die Schätze nicht erhalten werden; zumahl bey dem erneuerten und vergröſserten Argwohn, der seit einigen Jahrzehenden zwischen den Machthabern und den Beherrschten Statt hat. Wenn ich mich irre, soll es mir lieb seyn; denn ich wollte drey Fuſsreisen von der Elbe an den Liris machen, um dort von dem Livius den Spartakus zu lesen, den ich für einen der gröſsten und besten römischen Feldherren zu halten in Gefahr bin. Unter diesen Ueberlegungen, deren Konsequenz ich Dir überlasse, wandelte ich die Straſse nach Ro¬ vigo fort. Diese Seite von Venedig ist nicht halb so schön als die andere von Treviso nach Mestre: die Ueberschwemmungen mit dem neuen Regenwasser hat¬ ten die Wege traurig zugerichtet, und ich zog sehr schwer durch den fetten Boden Italiens weiter. Ueber¬ all war der Segen des Himmels mit Verschwendung über die Gegend ausgeschüttet, und überall war in den Hütten die jämmerlichste Armuth. Vermuthlich war dieſs noch mit Folge des Kriegs. Nicht weit von Montselice kehrte ich zu Mittage an der Straſse in ei¬ nem Wirthshause ein, das nicht die schlimmste Miene hatte, und fand nichts, durchaus nichts, als etwas Wein. Ich wartete eine halbe Stunde und wollte viel zahlen, wenn man mir aus den benachbarten Häusern

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Zitationshilfe: Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/135>, abgerufen am 27.11.2024.