In dem Zimmer, wo der Abguss der Psyche steht, sind rund an den Wänden Reliefs in Gyps von Canovas übrigen Arbeiten. Eine Grablegung des Sokrates durch seine Freunde. Die Scene, wo der Verurtheilte den Becher nimmt. Der Abschied von seiner Familie. Der Tod des Priamus nach Virgil. Der Tanz der Phäacier in Gegenwart des Ulysses, wo die beyden tanzenden Figuren vortrefflich sind: und die opfern¬ den Trojanerinnen vor der Minerva, unter Anführung der Hekuba. Alles ist eines grossen und weisen Künst¬ lers würdig; aber Hebe hat sich nun einmahl meines Geistes bemächtiget und für das übrige nichts mehr übrig gelassen. Wenn der Künstler, wie man glaubt, nach einem Modell gearbeitet hat, so möchte ich für meine Ruhe das Original nicht sehen. Doch, wenn dieses auch ist, so wird seine Seele gewiss es erst zu diesem Ideal erhoben haben, das jetzt alle Anschauer begeistert.
Da meine Wohnung hier nahe am Markusplatze ist, habe ich fast stündlich Gelegenheit die Stellen zu sehen, auf welchen die berühmten Pferde standen, die nun, wie ich höre, den konsularischen Pallast der Gal¬ lier bewachen sollen. Sonderbar; wenn ich nicht irre, erbeuteten die Venetianer, in Gesellschaft mit den Franzosen, diese Pferde nebst vielen andern gewöhnli¬ chen Schätzen. Die Venetianer liessen ihren Verbün¬ deten die Schätze und behielten die Pferde; und jetzt kommen die Herren und holen die Pferde nach. Wo ist der Bräutigam der Braut, der jährlich sein Fest auf dem adriatischen Meere feyerte? Die Britten gingen seit geraumer Zeit schon etwas willkührlich
In dem Zimmer, wo der Abguſs der Psyche steht, sind rund an den Wänden Reliefs in Gyps von Canovas übrigen Arbeiten. Eine Grablegung des Sokrates durch seine Freunde. Die Scene, wo der Verurtheilte den Becher nimmt. Der Abschied von seiner Familie. Der Tod des Priamus nach Virgil. Der Tanz der Phäacier in Gegenwart des Ulysses, wo die beyden tanzenden Figuren vortrefflich sind: und die opfern¬ den Trojanerinnen vor der Minerva, unter Anführung der Hekuba. Alles ist eines groſsen und weisen Künst¬ lers würdig; aber Hebe hat sich nun einmahl meines Geistes bemächtiget und für das übrige nichts mehr übrig gelassen. Wenn der Künstler, wie man glaubt, nach einem Modell gearbeitet hat, so möchte ich für meine Ruhe das Original nicht sehen. Doch, wenn dieses auch ist, so wird seine Seele gewiſs es erst zu diesem Ideal erhoben haben, das jetzt alle Anschauer begeistert.
Da meine Wohnung hier nahe am Markusplatze ist, habe ich fast stündlich Gelegenheit die Stellen zu sehen, auf welchen die berühmten Pferde standen, die nun, wie ich höre, den konsularischen Pallast der Gal¬ lier bewachen sollen. Sonderbar; wenn ich nicht irre, erbeuteten die Venetianer, in Gesellschaft mit den Franzosen, diese Pferde nebst vielen andern gewöhnli¬ chen Schätzen. Die Venetianer lieſsen ihren Verbün¬ deten die Schätze und behielten die Pferde; und jetzt kommen die Herren und holen die Pferde nach. Wo ist der Bräutigam der Braut, der jährlich sein Fest auf dem adriatischen Meere feyerte? Die Britten gingen seit geraumer Zeit schon etwas willkührlich
<TEI><text><body><div><p><pbfacs="#f0128"n="102"/>
In dem Zimmer, wo der Abguſs der Psyche steht, sind<lb/>
rund an den Wänden Reliefs in Gyps von Canovas<lb/>
übrigen Arbeiten. Eine Grablegung des Sokrates durch<lb/>
seine Freunde. Die Scene, wo der Verurtheilte den<lb/>
Becher nimmt. Der Abschied von seiner Familie.<lb/>
Der Tod des Priamus nach Virgil. Der Tanz der<lb/>
Phäacier in Gegenwart des Ulysses, wo die beyden<lb/>
tanzenden Figuren vortrefflich sind: und die opfern¬<lb/>
den Trojanerinnen vor der Minerva, unter Anführung<lb/>
der Hekuba. Alles ist eines groſsen und weisen Künst¬<lb/>
lers würdig; aber Hebe hat sich nun einmahl meines<lb/>
Geistes bemächtiget und für das übrige nichts mehr<lb/>
übrig gelassen. Wenn der Künstler, wie man glaubt,<lb/>
nach einem Modell gearbeitet hat, so möchte ich für<lb/>
meine Ruhe das Original nicht sehen. Doch, wenn<lb/>
dieses auch ist, so wird seine Seele gewiſs es erst zu<lb/>
diesem Ideal erhoben haben, das jetzt alle Anschauer<lb/>
begeistert.</p><lb/><p>Da meine Wohnung hier nahe am Markusplatze<lb/>
ist, habe ich fast stündlich Gelegenheit die Stellen zu<lb/>
sehen, auf welchen die berühmten Pferde standen, die<lb/>
nun, wie ich höre, den konsularischen Pallast der Gal¬<lb/>
lier bewachen sollen. Sonderbar; wenn ich nicht irre,<lb/>
erbeuteten die Venetianer, in Gesellschaft mit den<lb/>
Franzosen, diese Pferde nebst vielen andern gewöhnli¬<lb/>
chen Schätzen. Die Venetianer lieſsen ihren Verbün¬<lb/>
deten die Schätze und behielten die Pferde; und jetzt<lb/>
kommen die Herren und holen die Pferde nach.<lb/>
Wo ist der Bräutigam der Braut, der jährlich sein<lb/>
Fest auf dem adriatischen Meere feyerte? Die Britten<lb/>
gingen seit geraumer Zeit schon etwas willkührlich<lb/></p></div></body></text></TEI>
[102/0128]
In dem Zimmer, wo der Abguſs der Psyche steht, sind
rund an den Wänden Reliefs in Gyps von Canovas
übrigen Arbeiten. Eine Grablegung des Sokrates durch
seine Freunde. Die Scene, wo der Verurtheilte den
Becher nimmt. Der Abschied von seiner Familie.
Der Tod des Priamus nach Virgil. Der Tanz der
Phäacier in Gegenwart des Ulysses, wo die beyden
tanzenden Figuren vortrefflich sind: und die opfern¬
den Trojanerinnen vor der Minerva, unter Anführung
der Hekuba. Alles ist eines groſsen und weisen Künst¬
lers würdig; aber Hebe hat sich nun einmahl meines
Geistes bemächtiget und für das übrige nichts mehr
übrig gelassen. Wenn der Künstler, wie man glaubt,
nach einem Modell gearbeitet hat, so möchte ich für
meine Ruhe das Original nicht sehen. Doch, wenn
dieses auch ist, so wird seine Seele gewiſs es erst zu
diesem Ideal erhoben haben, das jetzt alle Anschauer
begeistert.
Da meine Wohnung hier nahe am Markusplatze
ist, habe ich fast stündlich Gelegenheit die Stellen zu
sehen, auf welchen die berühmten Pferde standen, die
nun, wie ich höre, den konsularischen Pallast der Gal¬
lier bewachen sollen. Sonderbar; wenn ich nicht irre,
erbeuteten die Venetianer, in Gesellschaft mit den
Franzosen, diese Pferde nebst vielen andern gewöhnli¬
chen Schätzen. Die Venetianer lieſsen ihren Verbün¬
deten die Schätze und behielten die Pferde; und jetzt
kommen die Herren und holen die Pferde nach.
Wo ist der Bräutigam der Braut, der jährlich sein
Fest auf dem adriatischen Meere feyerte? Die Britten
gingen seit geraumer Zeit schon etwas willkührlich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/128>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.