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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861.

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ausgenommen, die Sectionsbefunde der betreffenden Epide-
mien, und dadurch die Quelle, aus welcher die Epidemien ihre
Existenz gefristet. Ich habe nachgewiesen, aus welchen Ver-
hältnissen die Epidemien des Wiener Gebärhauses, das Ge-
bärhauses zu St. Rochus und der geburtshilflichen Klinik in
Pest entsprungen sind. Durch diese Schrift aufmerksam ge-
macht, dürften die Geheimnisse der Epidemien so mancher
Gebärhäuser enthüllt werden.

Die Geschichte der Puerperalfieber-Epidemien des Wie-
ner Gebärhauses liefert den Beweis, dass die Häufigkeit und
Bösartigkeit der Epidemien im geraden Verhältnisse stand
mit der Entwicklung und Ausbildung der anatomischen Rich-
tung der Medicin.

Boer trat im Jahre 1789 sein Lehramt an, und erhielt im
Jahre 1822 einen Nachfolger in Prof. Klein, nachdem Boer,
der Reformator der Geburtshilfe, der Verfasser der natürli-
chen Geburtshilfe, entmuthigt durch die damals für enorm ge-
haltene Sterblichkeit, sein Lehramt frühzeitig verlassen; und
doch hatte Boer 21 Jahre nicht eine Wöchnerin von 100 ver-
loren. 6 Jahre war die Sterblichkeit 1 von 100, 4 Jahre 2 von
100, 1 Jahr 3 und 1 Jahr 4 von 100.

In welch schreckenerregender Weise hat sich nach dieser
Zeit selbst während der 12 Jahre nach Einführung der Chlor-
waschungen in Folge der anatomischen Richtung der Medicin
die Sterblichkeit gesteigert! Von 1822 angefangen bis inclu-
sive 1858 war die Sterblichkeit 1 Jahr 0 Percent, 3 Jahre
1 Percent, 6 Jahre 2 Percent, 4 Jahre 3 Percent, 6 Jahre
4 Percent, 4 Jahre 5 Percent, 3 Jahre 6 Percent, 4 Jahre
7 Percent, 5 Jahre 8 Percent, 1 Jahr 12 Percent.

Die Geschichte der Puerperal-Epidemien zeigt, dass die
Epidemien vorzüglich an Gebärhäuser gebunden sind; wenn
demnach in Gebärhäusern, welche sich in grosser Entfernung
von einander befinden, gleichzeitig das Kindbettfieber herrscht,
z. B. in Paris und Wien, so ist das nicht dadurch zu erklä-
ren, dass die atmosphärisch-cosmisch-tellurischen Einflüsse

ausgenommen, die Sectionsbefunde der betreffenden Epide-
mien, und dadurch die Quelle, aus welcher die Epidemien ihre
Existenz gefristet. Ich habe nachgewiesen, aus welchen Ver-
hältnissen die Epidemien des Wiener Gebärhauses, das Ge-
bärhauses zu St. Rochus und der geburtshilflichen Klinik in
Pest entsprungen sind. Durch diese Schrift aufmerksam ge-
macht, dürften die Geheimnisse der Epidemien so mancher
Gebärhäuser enthüllt werden.

Die Geschichte der Puerperalfieber-Epidemien des Wie-
ner Gebärhauses liefert den Beweis, dass die Häufigkeit und
Bösartigkeit der Epidemien im geraden Verhältnisse stand
mit der Entwicklung und Ausbildung der anatomischen Rich-
tung der Medicin.

Boer trat im Jahre 1789 sein Lehramt an, und erhielt im
Jahre 1822 einen Nachfolger in Prof. Klein, nachdem Boer,
der Reformator der Geburtshilfe, der Verfasser der natürli-
chen Geburtshilfe, entmuthigt durch die damals für enorm ge-
haltene Sterblichkeit, sein Lehramt frühzeitig verlassen; und
doch hatte Boer 21 Jahre nicht eine Wöchnerin von 100 ver-
loren. 6 Jahre war die Sterblichkeit 1 von 100, 4 Jahre 2 von
100, 1 Jahr 3 und 1 Jahr 4 von 100.

In welch schreckenerregender Weise hat sich nach dieser
Zeit selbst während der 12 Jahre nach Einführung der Chlor-
waschungen in Folge der anatomischen Richtung der Medicin
die Sterblichkeit gesteigert! Von 1822 angefangen bis inclu-
sive 1858 war die Sterblichkeit 1 Jahr 0 Percent, 3 Jahre
1 Percent, 6 Jahre 2 Percent, 4 Jahre 3 Percent, 6 Jahre
4 Percent, 4 Jahre 5 Percent, 3 Jahre 6 Percent, 4 Jahre
7 Percent, 5 Jahre 8 Percent, 1 Jahr 12 Percent.

Die Geschichte der Puerperal-Epidemien zeigt, dass die
Epidemien vorzüglich an Gebärhäuser gebunden sind; wenn
demnach in Gebärhäusern, welche sich in grosser Entfernung
von einander befinden, gleichzeitig das Kindbettfieber herrscht,
z. B. in Paris und Wien, so ist das nicht dadurch zu erklä-
ren, dass die atmosphärisch-cosmisch-tellurischen Einflüsse

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[205/0217] ausgenommen, die Sectionsbefunde der betreffenden Epide- mien, und dadurch die Quelle, aus welcher die Epidemien ihre Existenz gefristet. Ich habe nachgewiesen, aus welchen Ver- hältnissen die Epidemien des Wiener Gebärhauses, das Ge- bärhauses zu St. Rochus und der geburtshilflichen Klinik in Pest entsprungen sind. Durch diese Schrift aufmerksam ge- macht, dürften die Geheimnisse der Epidemien so mancher Gebärhäuser enthüllt werden. Die Geschichte der Puerperalfieber-Epidemien des Wie- ner Gebärhauses liefert den Beweis, dass die Häufigkeit und Bösartigkeit der Epidemien im geraden Verhältnisse stand mit der Entwicklung und Ausbildung der anatomischen Rich- tung der Medicin. Boer trat im Jahre 1789 sein Lehramt an, und erhielt im Jahre 1822 einen Nachfolger in Prof. Klein, nachdem Boer, der Reformator der Geburtshilfe, der Verfasser der natürli- chen Geburtshilfe, entmuthigt durch die damals für enorm ge- haltene Sterblichkeit, sein Lehramt frühzeitig verlassen; und doch hatte Boer 21 Jahre nicht eine Wöchnerin von 100 ver- loren. 6 Jahre war die Sterblichkeit 1 von 100, 4 Jahre 2 von 100, 1 Jahr 3 und 1 Jahr 4 von 100. In welch schreckenerregender Weise hat sich nach dieser Zeit selbst während der 12 Jahre nach Einführung der Chlor- waschungen in Folge der anatomischen Richtung der Medicin die Sterblichkeit gesteigert! Von 1822 angefangen bis inclu- sive 1858 war die Sterblichkeit 1 Jahr 0 Percent, 3 Jahre 1 Percent, 6 Jahre 2 Percent, 4 Jahre 3 Percent, 6 Jahre 4 Percent, 4 Jahre 5 Percent, 3 Jahre 6 Percent, 4 Jahre 7 Percent, 5 Jahre 8 Percent, 1 Jahr 12 Percent. Die Geschichte der Puerperal-Epidemien zeigt, dass die Epidemien vorzüglich an Gebärhäuser gebunden sind; wenn demnach in Gebärhäusern, welche sich in grosser Entfernung von einander befinden, gleichzeitig das Kindbettfieber herrscht, z. B. in Paris und Wien, so ist das nicht dadurch zu erklä- ren, dass die atmosphärisch-cosmisch-tellurischen Einflüsse

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Zitationshilfe: Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/217>, abgerufen am 30.04.2024.