Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861.

Bild:
<< vorherige Seite

Gebärhause, so könnte kaum die Zahl von 100 Geburten er-
reicht werden.

,Dies wäre, wird man sagen, denn doch eine schöne
Eigenschaft der Gebärklinik, und wir sind die Letzten, es zu
läugnen; aber Grande misere bezieht sich immer nur auf die
Unterrichtsmittel, und die liegen, wie man einsieht, im Ar-
gen; denn was helfen 600 Geburten, wenn man kaum ein Du-
tzend davon zu sehen bekommt! Bekanntlich geschehen diese
zu guten zwei Drittheilen während der Nacht, gehen aber
für den Unterricht in so fern verloren, als gar keine Räume
zur Behausung der Studirenden oder Hebammen für die
Nachtzeit vorhanden sind. Es haben somit nur die beiden In-
spection haltenden Schüler Gelegenheit zum Lernen, und auch
diese nur auf Kosten ihrer Gesundheit, wenn sie die Nacht-
zeit im überfüllten Krankenzimmer zubringen wollen; bei
Tage aber muss man, wie oben gezeigt wurde, schon ein paar
Püffe aushalten können, wenn man sich in dem kleinen Raume
durchdrängen will. Nichts aber ist gefährlicher für den Stu-
direnden als die Idee, dass seine Mühe vergebens ist; hat sich
diese einmal eingenistet im Kopfe, so tritt Gleichgiltigkeit,
oder gar Widerwillen an die Stelle des anfänglichen Eifers,
und selbst die geringe Gelegenheit wird missachtet, die sich
dem Lernbegierigen hie und da darbieten mag.

,Nicht besser steht es um das Capitel der Vorlesungen.
Da kein eigener Hörsaal für diese Klinik existirt, so gastirt
der Professor der Geburtshilfe, wann und wo er eben Einlass
findet, im Winter zu ebener Erde im acologischen Hörsaale,
im Sommer im chirurgischen. Dass das Auditorium im Winter
um sieben Uhr Früh, also meist bei Kerzenbeleuchtung nicht
unmässig belebt ist, wäre eben kein grosses Unglück, da ja
überhaupt die sogenannte theoretische Geburtshilfe im dritten
Jahrgange der Medicin bekanntlich nichts taugt, und bald
ganz einem vernünftigeren Lehrplane wird weichen müssen;
dass aber die so wichtige praktische Geburtshilfe mit Demon-
strationen am Phantome aus Mangel an dem obigen Wann und

Gebärhause, so könnte kaum die Zahl von 100 Geburten er-
reicht werden.

‚Dies wäre, wird man sagen, denn doch eine schöne
Eigenschaft der Gebärklinik, und wir sind die Letzten, es zu
läugnen; aber Grande misère bezieht sich immer nur auf die
Unterrichtsmittel, und die liegen, wie man einsieht, im Ar-
gen; denn was helfen 600 Geburten, wenn man kaum ein Du-
tzend davon zu sehen bekommt! Bekanntlich geschehen diese
zu guten zwei Drittheilen während der Nacht, gehen aber
für den Unterricht in so fern verloren, als gar keine Räume
zur Behausung der Studirenden oder Hebammen für die
Nachtzeit vorhanden sind. Es haben somit nur die beiden In-
spection haltenden Schüler Gelegenheit zum Lernen, und auch
diese nur auf Kosten ihrer Gesundheit, wenn sie die Nacht-
zeit im überfüllten Krankenzimmer zubringen wollen; bei
Tage aber muss man, wie oben gezeigt wurde, schon ein paar
Püffe aushalten können, wenn man sich in dem kleinen Raume
durchdrängen will. Nichts aber ist gefährlicher für den Stu-
direnden als die Idee, dass seine Mühe vergebens ist; hat sich
diese einmal eingenistet im Kopfe, so tritt Gleichgiltigkeit,
oder gar Widerwillen an die Stelle des anfänglichen Eifers,
und selbst die geringe Gelegenheit wird missachtet, die sich
dem Lernbegierigen hie und da darbieten mag.

‚Nicht besser steht es um das Capitel der Vorlesungen.
Da kein eigener Hörsaal für diese Klinik existirt, so gastirt
der Professor der Geburtshilfe, wann und wo er eben Einlass
findet, im Winter zu ebener Erde im acologischen Hörsaale,
im Sommer im chirurgischen. Dass das Auditorium im Winter
um sieben Uhr Früh, also meist bei Kerzenbeleuchtung nicht
unmässig belebt ist, wäre eben kein grosses Unglück, da ja
überhaupt die sogenannte theoretische Geburtshilfe im dritten
Jahrgange der Medicin bekanntlich nichts taugt, und bald
ganz einem vernünftigeren Lehrplane wird weichen müssen;
dass aber die so wichtige praktische Geburtshilfe mit Demon-
strationen am Phantome aus Mangel an dem obigen Wann und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0105" n="93"/>
Gebärhause, so könnte kaum die Zahl von 100 Geburten er-<lb/>
reicht werden.</p><lb/>
        <p>&#x201A;Dies wäre, wird man sagen, denn doch eine schöne<lb/>
Eigenschaft der Gebärklinik, und wir sind die Letzten, es zu<lb/>
läugnen; aber <hi rendition="#i">Grande misère</hi> bezieht sich immer nur auf die<lb/>
Unterrichtsmittel, und die liegen, wie man einsieht, im Ar-<lb/>
gen; denn was helfen 600 Geburten, wenn man kaum ein Du-<lb/>
tzend davon zu sehen bekommt! Bekanntlich geschehen diese<lb/>
zu guten zwei Drittheilen während der Nacht, gehen aber<lb/>
für den Unterricht in so fern verloren, als gar keine Räume<lb/>
zur Behausung der Studirenden oder Hebammen für die<lb/>
Nachtzeit vorhanden sind. Es haben somit nur die beiden In-<lb/>
spection haltenden Schüler Gelegenheit zum Lernen, und auch<lb/>
diese nur auf Kosten ihrer Gesundheit, wenn sie die Nacht-<lb/>
zeit im überfüllten Krankenzimmer zubringen wollen; bei<lb/>
Tage aber muss man, wie oben gezeigt wurde, schon ein paar<lb/>
Püffe aushalten können, wenn man sich in dem kleinen Raume<lb/>
durchdrängen will. Nichts aber ist gefährlicher für den Stu-<lb/>
direnden als die Idee, dass seine Mühe vergebens ist; hat sich<lb/>
diese einmal eingenistet im Kopfe, so tritt Gleichgiltigkeit,<lb/>
oder gar Widerwillen an die Stelle des anfänglichen Eifers,<lb/>
und selbst die geringe Gelegenheit wird missachtet, die sich<lb/>
dem Lernbegierigen hie und da darbieten mag.</p><lb/>
        <p>&#x201A;Nicht besser steht es um das Capitel der Vorlesungen.<lb/>
Da kein eigener Hörsaal für diese Klinik existirt, so gastirt<lb/>
der Professor der Geburtshilfe, wann und wo er eben Einlass<lb/>
findet, im Winter zu ebener Erde im acologischen Hörsaale,<lb/>
im Sommer im chirurgischen. Dass das Auditorium im Winter<lb/>
um sieben Uhr Früh, also meist bei Kerzenbeleuchtung nicht<lb/>
unmässig belebt ist, wäre eben kein grosses Unglück, da ja<lb/>
überhaupt die sogenannte theoretische Geburtshilfe im dritten<lb/>
Jahrgange der Medicin bekanntlich nichts taugt, und bald<lb/>
ganz einem vernünftigeren Lehrplane wird weichen müssen;<lb/>
dass aber die so wichtige praktische Geburtshilfe mit Demon-<lb/>
strationen am Phantome aus Mangel an dem obigen Wann und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0105] Gebärhause, so könnte kaum die Zahl von 100 Geburten er- reicht werden. ‚Dies wäre, wird man sagen, denn doch eine schöne Eigenschaft der Gebärklinik, und wir sind die Letzten, es zu läugnen; aber Grande misère bezieht sich immer nur auf die Unterrichtsmittel, und die liegen, wie man einsieht, im Ar- gen; denn was helfen 600 Geburten, wenn man kaum ein Du- tzend davon zu sehen bekommt! Bekanntlich geschehen diese zu guten zwei Drittheilen während der Nacht, gehen aber für den Unterricht in so fern verloren, als gar keine Räume zur Behausung der Studirenden oder Hebammen für die Nachtzeit vorhanden sind. Es haben somit nur die beiden In- spection haltenden Schüler Gelegenheit zum Lernen, und auch diese nur auf Kosten ihrer Gesundheit, wenn sie die Nacht- zeit im überfüllten Krankenzimmer zubringen wollen; bei Tage aber muss man, wie oben gezeigt wurde, schon ein paar Püffe aushalten können, wenn man sich in dem kleinen Raume durchdrängen will. Nichts aber ist gefährlicher für den Stu- direnden als die Idee, dass seine Mühe vergebens ist; hat sich diese einmal eingenistet im Kopfe, so tritt Gleichgiltigkeit, oder gar Widerwillen an die Stelle des anfänglichen Eifers, und selbst die geringe Gelegenheit wird missachtet, die sich dem Lernbegierigen hie und da darbieten mag. ‚Nicht besser steht es um das Capitel der Vorlesungen. Da kein eigener Hörsaal für diese Klinik existirt, so gastirt der Professor der Geburtshilfe, wann und wo er eben Einlass findet, im Winter zu ebener Erde im acologischen Hörsaale, im Sommer im chirurgischen. Dass das Auditorium im Winter um sieben Uhr Früh, also meist bei Kerzenbeleuchtung nicht unmässig belebt ist, wäre eben kein grosses Unglück, da ja überhaupt die sogenannte theoretische Geburtshilfe im dritten Jahrgange der Medicin bekanntlich nichts taugt, und bald ganz einem vernünftigeren Lehrplane wird weichen müssen; dass aber die so wichtige praktische Geburtshilfe mit Demon- strationen am Phantome aus Mangel an dem obigen Wann und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/105
Zitationshilfe: Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/105>, abgerufen am 22.11.2024.