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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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aber mehr lesen und hören: die meisten der griechischen Tragödien pse_687.002
der drei Großen, beinahe die gesamte altgermanische pse_687.003
Heldendichtung. Das ist wieder ein Stück geschichtlicher pse_687.004
Ausgeliefertheit der Dichtung. Freilich weder dem Wert der pse_687.005
einzelnen verlorenen noch der Dichtung überhaupt wird dadurch pse_687.006
nur das geringste angetan.

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Der Lebenssinn der Dichtung

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Der Umgang mit dem Wort "Lebenssinn" birgt Gefahren pse_687.009
in sich. Man denkt zu gern an die mannigfache, beinahe pse_687.010
praktische Lebenshilfe der Dichtung: man wird erbaut und pse_687.011
damit in Kümmernissen getröstet; man wird reicher an Lebenserfahrungen pse_687.012
durch den Inhalt von Dichtungen; wir werden pse_687.013
vom Alltag abgelenkt und leicht entspannt; wir können durch pse_687.014
sie die Jugend bildnerisch und sittlich beeinflussen. Das alles pse_687.015
sind Tatsachen der Lebenswirkung der Kunst. Viele Menschen pse_687.016
haben nur solche Hilfe, beinahe möchte man sagen: solchen pse_687.017
Nutzen von der Dichtung. Das ist nicht schlecht, aber ist pse_687.018
nur eine Folge vom Dasein der Dichtung und der Welt, pse_687.019
die in ihr lebendig ist. Unmittelbar ergibt sich aus dem Dasein pse_687.020
der dichterischen Welt in der Gestaltungskraft das Erlebnis pse_687.021
der Schönheit, in der Erhellungskraft das Erlebnis der pse_687.022
Wahrheit, in der Läuterungskraft das Erlebnis des Guten. pse_687.023
Aber auch das ist bereits eine Ableitung aus dem Wesen der pse_687.024
Dichtung. Daß ihr Dasein dem Menschen schon ein höchster pse_687.025
Wert ist, haben die Philosophen immer wieder erkannt, pse_687.026
wenn sie oft auch zuviel bloß an die Wahrheitserhellung pse_687.027
dachten und das Schöne, das In-sich-Ruhende, vernachlässigten. pse_687.028
In der Begegnung mit der Dichtung kommt der Mensch pse_687.029
zu sich selbst. Er wird sich seines innersten Wesens bewußt, pse_687.030
und das allein ist schon ein höchster Lebenssinn der Dichtung. pse_687.031
Die Zeit und die Umwelt wirbeln den Menschen in Äußerlichkeiten pse_687.032
herum, die in sich ruhende Welt der Dichtung pse_687.033
führt ihn zu sich. Das meint auch Schiller mit dem Spielcharakter pse_687.034
der dichterischen Welt: sie schwebt gelöst in sich, pse_687.035
und das Menschliche in ihr kommt zu reiner Geltung. Erst

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der drei Großen, beinahe die gesamte altgermanische pse_687.003
Heldendichtung. Das ist wieder ein Stück geschichtlicher pse_687.004
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nur das geringste angetan.

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Der Lebenssinn der Dichtung

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Der Umgang mit dem Wort »Lebenssinn« birgt Gefahren pse_687.009
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damit in Kümmernissen getröstet; man wird reicher an Lebenserfahrungen pse_687.012
durch den Inhalt von Dichtungen; wir werden pse_687.013
vom Alltag abgelenkt und leicht entspannt; wir können durch pse_687.014
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Nutzen von der Dichtung. Das ist nicht schlecht, aber ist pse_687.018
nur eine Folge vom Dasein der Dichtung und der Welt, pse_687.019
die in ihr lebendig ist. Unmittelbar ergibt sich aus dem Dasein pse_687.020
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Wahrheit, in der Läuterungskraft das Erlebnis des Guten. pse_687.023
Aber auch das ist bereits eine Ableitung aus dem Wesen der pse_687.024
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Wert ist, haben die Philosophen immer wieder erkannt, pse_687.026
wenn sie oft auch zuviel bloß an die Wahrheitserhellung pse_687.027
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In der Begegnung mit der Dichtung kommt der Mensch pse_687.029
zu sich selbst. Er wird sich seines innersten Wesens bewußt, pse_687.030
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Die Zeit und die Umwelt wirbeln den Menschen in Äußerlichkeiten pse_687.032
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führt ihn zu sich. Das meint auch Schiller mit dem Spielcharakter pse_687.034
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 687. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/703>, abgerufen am 04.05.2024.