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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest pse_666.002
man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus pse_666.003
einer Unterlage gelernt. Mit Ausnahme der Zeiten und Zusammenhänge pse_666.004
mündlicher Dichtungsüberlieferung sind wir pse_666.005
auf die Materie der Handschrift oder des Buches oder einer pse_666.006
anderen Vervielfältigungsmöglichkeit angewiesen. Die Menschen, pse_666.007
die sich mit Dichtung abgeben, brauchen diese Materien pse_666.008
dazu. Das Publikum ist der Verbraucher der Materien, pse_666.009
in denen Dichtung aufbewahrt ist, es ist in bezug auf die pse_666.010
Dichtung Verbraucher.

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Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen pse_666.012
hört und da im allgemeinen der Dichter ein Publikum pse_666.013
erwartet, hat es auch Wünsche, wie das, was es erwartet, pse_666.014
beschaffen sein soll. Was nicht gefragt wird, wird kaum pse_666.015
gedruckt, und ein Großteil der Literaten wünscht doch gelesen pse_666.016
zu werden. Daher müssen sie sich bis zu einem gewissen pse_666.017
Grad auch den Wünschen des Publikums anbequemen. Das pse_666.018
gilt für die Zeiten, wo Dichtung in engem Zusammenhang pse_666.019
mit der Gemeinschaft stand, auch für Dichtung. Aber auch pse_666.020
der einsame Dichter, dem an der Öffentlichkeit nichts liegt, pse_666.021
findet nur über Handschrift oder Buch zu den Menschen, pse_666.022
oder sie nur so zu ihm. Die Lage des Publikums hat also einen pse_666.023
gewissen Einfluß auf die Entwicklung der Dichtung. Dafür pse_666.024
gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie pse_666.025
ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen pse_666.026
des modernen Großstadtpublikums zusammen. Im pse_666.027
Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach pse_666.028
immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen pse_666.029
sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. pse_666.030
Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; pse_666.031
das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln pse_666.032
ein Geschäft machen. Aber in solchen Druckwerken kann pse_666.033
man wenig große Zusammenhänge bieten: "Wer vieles pse_666.034
bringt, wird manchem etwas bringen": es kommt auf Kürze pse_666.035
an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder pse_666.036
kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten pse_666.037
Vorgang bringt, regt zum Verdauen kurzer Produktionen pse_666.038
an. Endlich wirkt die Gehetztheit des modernen Lebens mit.

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Zeiten geschah dieser Vortrag ohne Unterlage. Heute liest pse_666.002
man vor, oder wenn man frei vorträgt, hat man den Text aus pse_666.003
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Da das Publikum Dichtung aus Büchern liest oder in Vorträgen pse_666.012
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gibt es heute ein klares Beispiel: die Kurzgeschichte. Daß sie pse_666.025
ausgesprochene Mode werden konnte, hängt mit den Bedürfnissen pse_666.026
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Wirbel des Verkehrs und Betriebs hascht der Mensch nach pse_666.028
immer neuen Anregungen, bei der Fülle des Bedarfs dürfen pse_666.029
sie aber weder in die Tiefe gehen noch zu umfangreich sein. pse_666.030
Der Zeitungs- und Magazinkonsum nimmt daher überhand; pse_666.031
das Gewinnstreben wirkt mit, man kann mit solchen Artikeln pse_666.032
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man wenig große Zusammenhänge bieten: »Wer vieles pse_666.034
bringt, wird manchem etwas bringen«: es kommt auf Kürze pse_666.035
an. Auch das Hochkommen des Films, der immer wieder pse_666.036
kurze Ausschnitte aus dem Leben oder aus einem dargestellten pse_666.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 666. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/682>, abgerufen am 24.11.2024.