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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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aus: die praktische, die theoretische und die ästhetische. Aus pse_052.002
dieser Erfassung steigt der Mensch dazu auf, in den gesamten pse_052.003
Erfahrungsstrom eine Ordnung zu bringen. Das ist die Weltordnung pse_052.004
im weitesten. Dieser hohen geistigen Leistung liegen pse_052.005
zwei Haltungen zugrunde, und danach können wir zwei pse_052.006
solcher umfassender und für die Menschheit im tiefsten lebenswichtiger pse_052.007
Ordnungssysteme unterscheiden. Die eine Grundhaltung pse_052.008
möchte ich die Frömmigkeit nennen. Es ist das Urgefühl pse_052.009
der Ehrfurcht vor dem Hohen und Geheimnisvollen, pse_052.010
das uns hinter aller Erfahrung aufzudämmern scheint. Daraus pse_052.011
wächst die Religion. Die andere Haltung geht gewiß auch pse_052.012
auf die Ehrfurcht zurück, aber hier verehrt der Mensch nicht pse_052.013
bloß, er dringt vor, er forscht: die philosophische Haltung. pse_052.014
Daraus wächst die Metaphysik. (Das ist keine geschichtliche pse_052.015
Konzeption, sondern der Versuch eines möglichst einfachen pse_052.016
Überblicks). Aus der Welterfassung unmittelbar entspringt pse_052.017
das Tätigsein des Menschen, er greift gestaltend in die Welt pse_052.018
ihm gegenüber ein: Weltgestaltung. Halt und Sicherheit bekommt pse_052.019
sie, wenn sie auf einer Weltordnung gegründet ist. pse_052.020
Während sich aus der Weltordnung für den Menschen ein pse_052.021
Welt- und Lebensbild gibt, arbeitet er als Gestaltender pse_052.022
Grundsätze des Handelns heraus, es entwickelt sich die Sittlichkeit, pse_052.023
es entsteht eine Welt- und Lebensanschauung, die pse_052.024
immer auf die Antriebe zum Handeln ausgerichtet sind.

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Welche Stellung hat nun die Kunst? Schematisch läßt sich pse_052.026
etwa sagen: Selbstverständlich baut sie auf der ästhetischen pse_052.027
Welterfassung auf. Und sie gehört zur Weltgestaltung. Sie pse_052.028
baut eben eine Welt aus dem ästhetischen Erleben heraus. pse_052.029
Aber diese Weltgestaltung im Kunstwerk ist als menschliches pse_052.030
Werk erst dann von Gewichtigkeit, läßt erst dann pse_052.031
Tieferes in der Gestalt erscheinen, wenn eine religiöse oder pse_052.032
metaphysische Weltordnung zugrunde liegt. Das heißt natürlich pse_052.033
nicht, daß der Künstler ein Religionsstifter oder Metaphysiker pse_052.034
sein muß. Aber er wird wie jeder tiefer veranlagte pse_052.035
Mensch in frommer oder forschender Haltung sich den pse_052.036
letzten Welträtseln gegenüber verhalten; sie sind ihm nicht pse_052.037
gleichgültig.

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Tatsächlich aber gibt es im wirklichen Leben allerhand Verquickungen.

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immer auf die Antriebe zum Handeln ausgerichtet sind.

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Welche Stellung hat nun die Kunst? Schematisch läßt sich pse_052.026
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Welterfassung auf. Und sie gehört zur Weltgestaltung. Sie pse_052.028
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Tieferes in der Gestalt erscheinen, wenn eine religiöse oder pse_052.032
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Mensch in frommer oder forschender Haltung sich den pse_052.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/68>, abgerufen am 07.05.2024.