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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Art von Dichtungen zu gewinnen und genauer pse_633.002
festzuhalten. Das bedeutet keine Abwertung von Dichtungen, pse_633.003
die jetzt aus solcher Schau den Namen Tragödie verlieren, pse_633.004
auch keine Abwertung anderer Anschauungen, sondern ist pse_633.005
eine Entscheidung aus einer durchzuführenden Gesamtsicht pse_633.006
auf die Dichtung. Solche Blickart ist nicht rein individuell pse_633.007
oder gar subjektivistisch, sondern sie ergibt sich immer deutlicher pse_633.008
aus unserer modernen theoretischen Bemühung um die pse_633.009
Dichtung.

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Die Tragödie ist nicht nur in ihrem Gehalt durch die durchgehende pse_633.011
Tragik bis zur letzten Folgerung bestimmt, sondern pse_633.012
auch in ihrer künstlerischen Anlage. Man kann das bis in die pse_633.013
sprachlichen Bilder und den dynamischen Ablauf der Rede pse_633.014
verfolgen. Tragische Bilder sind anders als komische. Man pse_633.015
spürt einer Dichtung nach den ersten Versen an, ob sie in den pse_633.016
tragischen oder komischen Bereich gehört. Die antike Tragödie pse_633.017
baut in ihrem Geschehen auf dem Mythos auf. Da der pse_633.018
Mythos die menschliche Fassungskraft übersteigt, da das Sein pse_633.019
der Welt in all seinen Geheimnissen ahnbar wird, ergeben sich pse_633.020
Umschwünge und Erkennungen im Ablauf des Geschehens. pse_633.021
So entsteht ein enges Sinngefüge als tragisches Kunstwerk. pse_633.022
Es ist der Ablauf der Tragödie von der sogenannten hamartia, pse_633.023
also vom Mangel an Einsicht einer dramatischen Person her pse_633.024
und vom Ende, das die erschütternden Folgen darstellt, her pse_633.025
in seiner Anlage bestimmt: ein strenges teleologisches Gefüge. pse_633.026
Alles, was diese Durchführung verhindern könnte, pse_633.027
bleibt weg, die Tragödie hat aus ihrem Wesen heraus einen pse_633.028
dichten, konzentrierten Aufbau. Deshalb konnte schon Aristoteles pse_633.029
bestimmte Teile und Kräfte festhalten, die jede Tragödie pse_633.030
aufweisen müsse, und auch neuere Poetiker betonen pse_633.031
diesen strengen Bau. Wenn man aber übersieht, daß es verschiedene pse_633.032
dramatische Möglichkeiten wie etwa Einort- und pse_633.033
Bewegungsdrama gibt, für die jeweils das Gesetz der Verdichtung pse_633.034
und Konzentration anders sich auswirkt, kommt pse_633.035
man zur pedantischen Aufstellung von notwendigen Handlungsschritten pse_633.036
(Freytag).

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Die Erschütterung, die aus dem tragischen Vorgang entsteht, pse_633.038
geht, äußerlich gesehen, immer auf ein großes Unglück

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Art von Dichtungen zu gewinnen und genauer pse_633.002
festzuhalten. Das bedeutet keine Abwertung von Dichtungen, pse_633.003
die jetzt aus solcher Schau den Namen Tragödie verlieren, pse_633.004
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eine Entscheidung aus einer durchzuführenden Gesamtsicht pse_633.006
auf die Dichtung. Solche Blickart ist nicht rein individuell pse_633.007
oder gar subjektivistisch, sondern sie ergibt sich immer deutlicher pse_633.008
aus unserer modernen theoretischen Bemühung um die pse_633.009
Dichtung.

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Die Tragödie ist nicht nur in ihrem Gehalt durch die durchgehende pse_633.011
Tragik bis zur letzten Folgerung bestimmt, sondern pse_633.012
auch in ihrer künstlerischen Anlage. Man kann das bis in die pse_633.013
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tragischen oder komischen Bereich gehört. Die antike Tragödie pse_633.017
baut in ihrem Geschehen auf dem Mythos auf. Da der pse_633.018
Mythos die menschliche Fassungskraft übersteigt, da das Sein pse_633.019
der Welt in all seinen Geheimnissen ahnbar wird, ergeben sich pse_633.020
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So entsteht ein enges Sinngefüge als tragisches Kunstwerk. pse_633.022
Es ist der Ablauf der Tragödie von der sogenannten hamartia, pse_633.023
also vom Mangel an Einsicht einer dramatischen Person her pse_633.024
und vom Ende, das die erschütternden Folgen darstellt, her pse_633.025
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Alles, was diese Durchführung verhindern könnte, pse_633.027
bleibt weg, die Tragödie hat aus ihrem Wesen heraus einen pse_633.028
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bestimmte Teile und Kräfte festhalten, die jede Tragödie pse_633.030
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diesen strengen Bau. Wenn man aber übersieht, daß es verschiedene pse_633.032
dramatische Möglichkeiten wie etwa Einort- und pse_633.033
Bewegungsdrama gibt, für die jeweils das Gesetz der Verdichtung pse_633.034
und Konzentration anders sich auswirkt, kommt pse_633.035
man zur pedantischen Aufstellung von notwendigen Handlungsschritten pse_633.036
(Freytag).

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Die Erschütterung, die aus dem tragischen Vorgang entsteht, pse_633.038
geht, äußerlich gesehen, immer auf ein großes Unglück

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/649>, abgerufen am 18.05.2024.