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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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und des Bestehens wird der Mensch emporgerissen; pse_630.002
darin liegt der Sinn der Tragik.

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Die Tragik offenbart sich am eindringlichsten in der pse_630.004
Tragödie. In ihr ist sie gleichsam der Grundakkord und das pse_630.005
Organisationsprinzip. In den dramatischen Kernmerkmalen pse_630.006
lassen sich die Erschütterung und das Durchhalten am kräftigsten pse_630.007
herausformen. Die Urgespaltenheit der Welt führt pse_630.008
zur reinen Erschütterung, die Gespanntheit im dramatischen pse_630.009
Vorgang reißt uns innerlich mit, so daß die Stimmungen pse_630.010
um so intensiver wirken. Zugleich drängt die Gespanntheit pse_630.011
nach vorn, und so läßt der dramatische Geist in der Verfolgung pse_630.012
des Ziels am Wege vieles liegen und kümmert sich pse_630.013
nicht darum. Aber gerade aus diesen Bereichen können dann pse_630.014
Einbrüche erfolgen, die die Antithetik offenbaren und alles pse_630.015
Drauflosstreben aufs Ziel fraglich und fragwürdig machen: pse_630.016
wir sehen uns dann vor Abgründe gestellt. Die Darstellung pse_630.017
solcher Vorgänge im Handeln und Reden von Personen drängt pse_630.018
uns alles Erschütternde am unmittelbarsten und radikalsten auf.

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Alles tragische Welterleben wird aber in der Tragödie in pse_630.020
ein reines Kunstgebilde emporgehoben. Die Tragödie ist pse_630.021
höchste Kunstform in klarster Ausgestaltung, und eben als pse_630.022
reines Kunstwerk gestattet sie die Durchblicke in die tiefen pse_630.023
Weltzusammenhänge. Aber sie stellt uns nicht unmittelbar pse_630.024
als Lebewesen in sie hinein, sondern stellt uns ihnen in ästhetischer pse_630.025
Schau gegenüber: wir sind durch solche Erschütterungen pse_630.026
nicht physisch bedroht, sondern haben uns als geistige pse_630.027
Wesen mit ihnen als dauernden Möglichkeiten des Menschseins pse_630.028
auseinanderzusetzen. Die Tragödie hat das vor allem pse_630.029
in drei umfassenden geschichtlichen Bereichen geleistet: in der pse_630.030
griechischen Tragödie, in der dauernden Bedrohung des pse_630.031
Menschen durch das Schicksal als weltenbeherrschende pse_630.032
Macht; in der Tragödie der christlichen Epoche, in der Gespanntheit pse_630.033
zwischen Jenseits und Diesseits, in die der Mensch pse_630.034
in diesem Leben hineingeworfen ist; in der Tragödie neuerer pse_630.035
Zeit, die keine Verflachung oder Entartung bringt, sondern pse_630.036
den Menschen in neue Bedrohungen schleudert und in ihnen pse_630.037
neuen Halt suchen läßt.

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Als Tragödie fassen wir unter den Dramen nur solche, in

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und des Bestehens wird der Mensch emporgerissen; pse_630.002
darin liegt der Sinn der Tragik.

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Die Tragik offenbart sich am eindringlichsten in der pse_630.004
Tragödie. In ihr ist sie gleichsam der Grundakkord und das pse_630.005
Organisationsprinzip. In den dramatischen Kernmerkmalen pse_630.006
lassen sich die Erschütterung und das Durchhalten am kräftigsten pse_630.007
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zur reinen Erschütterung, die Gespanntheit im dramatischen pse_630.009
Vorgang reißt uns innerlich mit, so daß die Stimmungen pse_630.010
um so intensiver wirken. Zugleich drängt die Gespanntheit pse_630.011
nach vorn, und so läßt der dramatische Geist in der Verfolgung pse_630.012
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nicht darum. Aber gerade aus diesen Bereichen können dann pse_630.014
Einbrüche erfolgen, die die Antithetik offenbaren und alles pse_630.015
Drauflosstreben aufs Ziel fraglich und fragwürdig machen: pse_630.016
wir sehen uns dann vor Abgründe gestellt. Die Darstellung pse_630.017
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uns alles Erschütternde am unmittelbarsten und radikalsten auf.

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Alles tragische Welterleben wird aber in der Tragödie in pse_630.020
ein reines Kunstgebilde emporgehoben. Die Tragödie ist pse_630.021
höchste Kunstform in klarster Ausgestaltung, und eben als pse_630.022
reines Kunstwerk gestattet sie die Durchblicke in die tiefen pse_630.023
Weltzusammenhänge. Aber sie stellt uns nicht unmittelbar pse_630.024
als Lebewesen in sie hinein, sondern stellt uns ihnen in ästhetischer pse_630.025
Schau gegenüber: wir sind durch solche Erschütterungen pse_630.026
nicht physisch bedroht, sondern haben uns als geistige pse_630.027
Wesen mit ihnen als dauernden Möglichkeiten des Menschseins pse_630.028
auseinanderzusetzen. Die Tragödie hat das vor allem pse_630.029
in drei umfassenden geschichtlichen Bereichen geleistet: in der pse_630.030
griechischen Tragödie, in der dauernden Bedrohung des pse_630.031
Menschen durch das Schicksal als weltenbeherrschende pse_630.032
Macht; in der Tragödie der christlichen Epoche, in der Gespanntheit pse_630.033
zwischen Jenseits und Diesseits, in die der Mensch pse_630.034
in diesem Leben hineingeworfen ist; in der Tragödie neuerer pse_630.035
Zeit, die keine Verflachung oder Entartung bringt, sondern pse_630.036
den Menschen in neue Bedrohungen schleudert und in ihnen pse_630.037
neuen Halt suchen läßt.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/646>, abgerufen am 22.05.2024.