Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_627.001
hob man die neue Tragödienform, in der bürgerliche Personen pse_627.002
handelten, als deutliche Art heraus: bürgerliches Drama. pse_627.003
Auch das ist keine künstlerische Bestimmung, sondern eine pse_627.004
sozialgeschichtliche. Dabei ist auch der sozialgeschichtliche pse_627.005
Untergrund nicht eindeutig. In "Kabale und Liebe" (1783) ist pse_627.006
das Bürgertum gegen den Adel abgehoben, die Spannung pse_627.007
der sittlichen Haltung der beiden Stände hat der Dichter bis pse_627.008
in die Seelen der Hauptgestalten hinein verfolgt; in Hebbels pse_627.009
"Maria Magdalena" (1843) liegt die Tragik rein in der sittlichen pse_627.010
Verkapselung des Kleinbürgertums, nicht mehr im pse_627.011
Kampf gegen einen anderen Stand, in Ibsens "Nora" (1879) pse_627.012
wird dem verlogenen sittlichen Getue des späten Bürgertums pse_627.013
die Larve heruntergerissen. So gesehen ist das bürgerliche pse_627.014
Drama eine sozialgeschichtliche Erscheinung. Vom dichterischen pse_627.015
Standpunkt aus wird es in seiner künstlerischen Form pse_627.016
erst bedeutsam, wenn man erkennt, wie aus der gesellschaftlichen pse_627.017
Umschichtung der Personen des Dramas auch die pse_627.018
Kunstform sich wandelt. Die höfische Tragödie Racines, die pse_627.019
hohe Tragödie der deutschen Klassik, das religiöse Drama pse_627.020
Calderons und die gewaltigen Weltdramen Shakespeares bewegen pse_627.021
sich auf einer hohen Ebene: gesellschaftlich gesehen, pse_627.022
oder in der Kraft der weltanschaulichen und religiösen Gestaltung pse_627.023
oder in der Weltumfassenheit, die an sich schon einen pse_627.024
erhöhten Standpunkt verlangt. Das wirkt sich auch in den pse_627.025
Aufbauformen und vor allem im Sprachstil aus. Das bürgerliche pse_627.026
Drama führt in die Enge eines mittleren Standes, auch pse_627.027
der Bau wird eng, gedrängt sein müssen, vor allem ist das pse_627.028
Weltbild der Personen beschränkt, und der Sprachstil gestaltet pse_627.029
eine ganz andere Wirklichkeitsebene. Das bürgerliche pse_627.030
Drama wird also von vornherein realistisch im üblichen Sinne pse_627.031
sein. Eine künstlerische Wertung hat davon auszugehen, ob pse_627.032
auch das bürgerliche Drama gewaltige tragische Erschütterung pse_627.033
und Blicke in die Hintergründe der Welt ermöglicht. pse_627.034
Das macht den Rangunterschied zwischen einem Drama pse_627.035
Kotzebues und einer "Penthesilea" aus.

pse_627.036
So wie im Gebiet der Epik hat man auch in dem des Dramas pse_627.037
einen Gehalt immer wieder besonders herausgegriffen: pse_627.038
die Geschichte. Das Geschichtsdrama ist künstlerisch genau so

pse_627.001
hob man die neue Tragödienform, in der bürgerliche Personen pse_627.002
handelten, als deutliche Art heraus: bürgerliches Drama. pse_627.003
Auch das ist keine künstlerische Bestimmung, sondern eine pse_627.004
sozialgeschichtliche. Dabei ist auch der sozialgeschichtliche pse_627.005
Untergrund nicht eindeutig. In »Kabale und Liebe« (1783) ist pse_627.006
das Bürgertum gegen den Adel abgehoben, die Spannung pse_627.007
der sittlichen Haltung der beiden Stände hat der Dichter bis pse_627.008
in die Seelen der Hauptgestalten hinein verfolgt; in Hebbels pse_627.009
»Maria Magdalena« (1843) liegt die Tragik rein in der sittlichen pse_627.010
Verkapselung des Kleinbürgertums, nicht mehr im pse_627.011
Kampf gegen einen anderen Stand, in Ibsens »Nora« (1879) pse_627.012
wird dem verlogenen sittlichen Getue des späten Bürgertums pse_627.013
die Larve heruntergerissen. So gesehen ist das bürgerliche pse_627.014
Drama eine sozialgeschichtliche Erscheinung. Vom dichterischen pse_627.015
Standpunkt aus wird es in seiner künstlerischen Form pse_627.016
erst bedeutsam, wenn man erkennt, wie aus der gesellschaftlichen pse_627.017
Umschichtung der Personen des Dramas auch die pse_627.018
Kunstform sich wandelt. Die höfische Tragödie Racines, die pse_627.019
hohe Tragödie der deutschen Klassik, das religiöse Drama pse_627.020
Calderóns und die gewaltigen Weltdramen Shakespeares bewegen pse_627.021
sich auf einer hohen Ebene: gesellschaftlich gesehen, pse_627.022
oder in der Kraft der weltanschaulichen und religiösen Gestaltung pse_627.023
oder in der Weltumfassenheit, die an sich schon einen pse_627.024
erhöhten Standpunkt verlangt. Das wirkt sich auch in den pse_627.025
Aufbauformen und vor allem im Sprachstil aus. Das bürgerliche pse_627.026
Drama führt in die Enge eines mittleren Standes, auch pse_627.027
der Bau wird eng, gedrängt sein müssen, vor allem ist das pse_627.028
Weltbild der Personen beschränkt, und der Sprachstil gestaltet pse_627.029
eine ganz andere Wirklichkeitsebene. Das bürgerliche pse_627.030
Drama wird also von vornherein realistisch im üblichen Sinne pse_627.031
sein. Eine künstlerische Wertung hat davon auszugehen, ob pse_627.032
auch das bürgerliche Drama gewaltige tragische Erschütterung pse_627.033
und Blicke in die Hintergründe der Welt ermöglicht. pse_627.034
Das macht den Rangunterschied zwischen einem Drama pse_627.035
Kotzebues und einer »Penthesilea« aus.

pse_627.036
So wie im Gebiet der Epik hat man auch in dem des Dramas pse_627.037
einen Gehalt immer wieder besonders herausgegriffen: pse_627.038
die Geschichte. Das Geschichtsdrama ist künstlerisch genau so

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0643" n="627"/><lb n="pse_627.001"/>
hob man die neue Tragödienform, in der bürgerliche Personen <lb n="pse_627.002"/>
handelten, als deutliche Art heraus: <hi rendition="#i">bürgerliches Drama.</hi> <lb n="pse_627.003"/>
Auch das ist keine künstlerische Bestimmung, sondern eine <lb n="pse_627.004"/>
sozialgeschichtliche. Dabei ist auch der sozialgeschichtliche <lb n="pse_627.005"/>
Untergrund nicht eindeutig. In »Kabale und Liebe« (1783) ist <lb n="pse_627.006"/>
das Bürgertum gegen den Adel abgehoben, die Spannung <lb n="pse_627.007"/>
der sittlichen Haltung der beiden Stände hat der Dichter bis <lb n="pse_627.008"/>
in die Seelen der Hauptgestalten hinein verfolgt; in Hebbels <lb n="pse_627.009"/>
»Maria Magdalena« (1843) liegt die Tragik rein in der sittlichen <lb n="pse_627.010"/>
Verkapselung des Kleinbürgertums, nicht mehr im <lb n="pse_627.011"/>
Kampf gegen einen anderen Stand, in Ibsens »Nora« (1879) <lb n="pse_627.012"/>
wird dem verlogenen sittlichen Getue des späten Bürgertums <lb n="pse_627.013"/>
die Larve heruntergerissen. So gesehen ist das bürgerliche <lb n="pse_627.014"/>
Drama eine sozialgeschichtliche Erscheinung. Vom dichterischen <lb n="pse_627.015"/>
Standpunkt aus wird es in seiner künstlerischen Form <lb n="pse_627.016"/>
erst bedeutsam, wenn man erkennt, wie aus der gesellschaftlichen <lb n="pse_627.017"/>
Umschichtung der Personen des Dramas auch die <lb n="pse_627.018"/>
Kunstform sich wandelt. Die höfische Tragödie Racines, die <lb n="pse_627.019"/>
hohe Tragödie der deutschen Klassik, das religiöse Drama <lb n="pse_627.020"/>
Calderóns und die gewaltigen Weltdramen Shakespeares bewegen <lb n="pse_627.021"/>
sich auf einer hohen Ebene: gesellschaftlich gesehen, <lb n="pse_627.022"/>
oder in der Kraft der weltanschaulichen und religiösen Gestaltung <lb n="pse_627.023"/>
oder in der Weltumfassenheit, die an sich schon einen <lb n="pse_627.024"/>
erhöhten Standpunkt verlangt. Das wirkt sich auch in den <lb n="pse_627.025"/>
Aufbauformen und vor allem im Sprachstil aus. Das bürgerliche <lb n="pse_627.026"/>
Drama führt in die Enge eines mittleren Standes, auch <lb n="pse_627.027"/>
der Bau wird eng, gedrängt sein müssen, vor allem ist das <lb n="pse_627.028"/>
Weltbild der Personen beschränkt, und der Sprachstil gestaltet <lb n="pse_627.029"/>
eine ganz andere Wirklichkeitsebene. Das bürgerliche <lb n="pse_627.030"/>
Drama wird also von vornherein realistisch im üblichen Sinne <lb n="pse_627.031"/>
sein. Eine künstlerische Wertung hat davon auszugehen, ob <lb n="pse_627.032"/>
auch das bürgerliche Drama gewaltige tragische Erschütterung <lb n="pse_627.033"/>
und Blicke in die Hintergründe der Welt ermöglicht. <lb n="pse_627.034"/>
Das macht den Rangunterschied zwischen einem Drama <lb n="pse_627.035"/>
Kotzebues und einer »Penthesilea« aus.</p>
              <p><lb n="pse_627.036"/>
So wie im Gebiet der Epik hat man auch in dem des Dramas <lb n="pse_627.037"/>
einen Gehalt immer wieder besonders herausgegriffen: <lb n="pse_627.038"/>
die Geschichte. Das <hi rendition="#i">Geschichtsdrama</hi> ist künstlerisch genau so
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[627/0643] pse_627.001 hob man die neue Tragödienform, in der bürgerliche Personen pse_627.002 handelten, als deutliche Art heraus: bürgerliches Drama. pse_627.003 Auch das ist keine künstlerische Bestimmung, sondern eine pse_627.004 sozialgeschichtliche. Dabei ist auch der sozialgeschichtliche pse_627.005 Untergrund nicht eindeutig. In »Kabale und Liebe« (1783) ist pse_627.006 das Bürgertum gegen den Adel abgehoben, die Spannung pse_627.007 der sittlichen Haltung der beiden Stände hat der Dichter bis pse_627.008 in die Seelen der Hauptgestalten hinein verfolgt; in Hebbels pse_627.009 »Maria Magdalena« (1843) liegt die Tragik rein in der sittlichen pse_627.010 Verkapselung des Kleinbürgertums, nicht mehr im pse_627.011 Kampf gegen einen anderen Stand, in Ibsens »Nora« (1879) pse_627.012 wird dem verlogenen sittlichen Getue des späten Bürgertums pse_627.013 die Larve heruntergerissen. So gesehen ist das bürgerliche pse_627.014 Drama eine sozialgeschichtliche Erscheinung. Vom dichterischen pse_627.015 Standpunkt aus wird es in seiner künstlerischen Form pse_627.016 erst bedeutsam, wenn man erkennt, wie aus der gesellschaftlichen pse_627.017 Umschichtung der Personen des Dramas auch die pse_627.018 Kunstform sich wandelt. Die höfische Tragödie Racines, die pse_627.019 hohe Tragödie der deutschen Klassik, das religiöse Drama pse_627.020 Calderóns und die gewaltigen Weltdramen Shakespeares bewegen pse_627.021 sich auf einer hohen Ebene: gesellschaftlich gesehen, pse_627.022 oder in der Kraft der weltanschaulichen und religiösen Gestaltung pse_627.023 oder in der Weltumfassenheit, die an sich schon einen pse_627.024 erhöhten Standpunkt verlangt. Das wirkt sich auch in den pse_627.025 Aufbauformen und vor allem im Sprachstil aus. Das bürgerliche pse_627.026 Drama führt in die Enge eines mittleren Standes, auch pse_627.027 der Bau wird eng, gedrängt sein müssen, vor allem ist das pse_627.028 Weltbild der Personen beschränkt, und der Sprachstil gestaltet pse_627.029 eine ganz andere Wirklichkeitsebene. Das bürgerliche pse_627.030 Drama wird also von vornherein realistisch im üblichen Sinne pse_627.031 sein. Eine künstlerische Wertung hat davon auszugehen, ob pse_627.032 auch das bürgerliche Drama gewaltige tragische Erschütterung pse_627.033 und Blicke in die Hintergründe der Welt ermöglicht. pse_627.034 Das macht den Rangunterschied zwischen einem Drama pse_627.035 Kotzebues und einer »Penthesilea« aus. pse_627.036 So wie im Gebiet der Epik hat man auch in dem des Dramas pse_627.037 einen Gehalt immer wieder besonders herausgegriffen: pse_627.038 die Geschichte. Das Geschichtsdrama ist künstlerisch genau so

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/643
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 627. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/643>, abgerufen am 18.05.2024.