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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Komödie. Hier steht der Mensch in der Spannung pse_618.002
zwischen Ich und Gesellschaft, sie gefährdet durch Unnatur pse_618.003
und Lüge den Menschen, die Unzulänglichkeit des an die pse_618.004
Gesellschaft gebundenen Menschen wird entlarvt.

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4. In Shakespeares Werk wird die christliche Substanz am pse_618.006
stärksten zurückgedrängt, Tragik und Komik brechen unverhüllt pse_618.007
und kraftvoll durch. Er ist der umfassendste Dramatiker pse_618.008
des Abendlandes. Vom Geschichtsdrama geht der pse_618.009
Weg über die Lustspiele und die Tragödien zu den Alterswerken pse_618.010
mit den stark heraustretenden Zügen des Heilenden pse_618.011
und Versöhnenden, die aber schon früher zu beobachten waren. pse_618.012
Man nennt sie heute vielfach Romanzen ("Cymbeline", pse_618.013
"Wintermärchen", "Sturm"). Shakespeare erschüttert und pse_618.014
erregt uns in seinen Tragödien aus den Möglichkeiten des pse_618.015
Menschen an sich. Aber die Überzeugung von einer erstrebenswerten pse_618.016
heilen Ordnung, in die alles Menschliche einfügbar pse_618.017
ist, wird als Hintergrund aller Dramen spürbar. Die Meisterschaft, pse_618.018
das alles in einprägsamen Bildern und einer dichten pse_618.019
Wirklichkeitsfülle lebendig werden zu lassen, ist unübertroffen.

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5. Mit Shakespeare werden Ordnungskräfte wirksam, die pse_618.021
nicht ausschließlich im Christentum und seiner Glaubenslehre pse_618.022
wurzeln. Wir können vom 18. Jahrhundert an von einer pse_618.023
nachchristlichen Epoche sprechen. Christliches ist immer pse_618.024
noch wirksam, besonders in der sittlichen Haltung, aber anderes pse_618.025
tritt daneben. Man spricht von Säkularisation. Das sollte pse_618.026
aber nicht abwertend gebraucht werden. Nicht bloß die pse_618.027
Spannung zwischen Glauben und Unglauben, Christentum pse_618.028
und Weltlichkeit darf man in dieser Epoche sehen. Ebenso pse_618.029
wesentlich für das Drama ist die zwischen menschlicher Innerlichkeit, pse_618.030
aus der bedeutsame Wert- und Weltsysteme aufsteigen, pse_618.031
und der harten Tatsächlichkeit der Außenwelt, die pse_618.032
aber auch ihre Werte hat. Hier nun erlangt das deutsche pse_618.033
Drama seine unstreitige Bedeutung im Rahmen der Weltliteratur. pse_618.034
Man wird ihm nicht gerecht, wenn man Goethe pse_618.035
und Grillparzer als undramatisch abtut und Kotzebue mehr pse_618.036
Raum in einer Darstellung einräumt als Kleist, Grillparzer pse_618.037
und Grabbe zusammen. Das deutsche Drama, vertreten vor pse_618.038
allem durch Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist,

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Komödie. Hier steht der Mensch in der Spannung pse_618.002
zwischen Ich und Gesellschaft, sie gefährdet durch Unnatur pse_618.003
und Lüge den Menschen, die Unzulänglichkeit des an die pse_618.004
Gesellschaft gebundenen Menschen wird entlarvt.

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stärksten zurückgedrängt, Tragik und Komik brechen unverhüllt pse_618.007
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ist, wird als Hintergrund aller Dramen spürbar. Die Meisterschaft, pse_618.018
das alles in einprägsamen Bildern und einer dichten pse_618.019
Wirklichkeitsfülle lebendig werden zu lassen, ist unübertroffen.

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5. Mit Shakespeare werden Ordnungskräfte wirksam, die pse_618.021
nicht ausschließlich im Christentum und seiner Glaubenslehre pse_618.022
wurzeln. Wir können vom 18. Jahrhundert an von einer pse_618.023
nachchristlichen Epoche sprechen. Christliches ist immer pse_618.024
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tritt daneben. Man spricht von Säkularisation. Das sollte pse_618.026
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und Weltlichkeit darf man in dieser Epoche sehen. Ebenso pse_618.029
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aus der bedeutsame Wert- und Weltsysteme aufsteigen, pse_618.031
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Raum in einer Darstellung einräumt als Kleist, Grillparzer pse_618.037
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[618/0634] pse_618.001 Komödie. Hier steht der Mensch in der Spannung pse_618.002 zwischen Ich und Gesellschaft, sie gefährdet durch Unnatur pse_618.003 und Lüge den Menschen, die Unzulänglichkeit des an die pse_618.004 Gesellschaft gebundenen Menschen wird entlarvt. pse_618.005 4. In Shakespeares Werk wird die christliche Substanz am pse_618.006 stärksten zurückgedrängt, Tragik und Komik brechen unverhüllt pse_618.007 und kraftvoll durch. Er ist der umfassendste Dramatiker pse_618.008 des Abendlandes. Vom Geschichtsdrama geht der pse_618.009 Weg über die Lustspiele und die Tragödien zu den Alterswerken pse_618.010 mit den stark heraustretenden Zügen des Heilenden pse_618.011 und Versöhnenden, die aber schon früher zu beobachten waren. pse_618.012 Man nennt sie heute vielfach Romanzen (»Cymbeline«, pse_618.013 »Wintermärchen«, »Sturm«). Shakespeare erschüttert und pse_618.014 erregt uns in seinen Tragödien aus den Möglichkeiten des pse_618.015 Menschen an sich. Aber die Überzeugung von einer erstrebenswerten pse_618.016 heilen Ordnung, in die alles Menschliche einfügbar pse_618.017 ist, wird als Hintergrund aller Dramen spürbar. Die Meisterschaft, pse_618.018 das alles in einprägsamen Bildern und einer dichten pse_618.019 Wirklichkeitsfülle lebendig werden zu lassen, ist unübertroffen. pse_618.020 5. Mit Shakespeare werden Ordnungskräfte wirksam, die pse_618.021 nicht ausschließlich im Christentum und seiner Glaubenslehre pse_618.022 wurzeln. Wir können vom 18. Jahrhundert an von einer pse_618.023 nachchristlichen Epoche sprechen. Christliches ist immer pse_618.024 noch wirksam, besonders in der sittlichen Haltung, aber anderes pse_618.025 tritt daneben. Man spricht von Säkularisation. Das sollte pse_618.026 aber nicht abwertend gebraucht werden. Nicht bloß die pse_618.027 Spannung zwischen Glauben und Unglauben, Christentum pse_618.028 und Weltlichkeit darf man in dieser Epoche sehen. Ebenso pse_618.029 wesentlich für das Drama ist die zwischen menschlicher Innerlichkeit, pse_618.030 aus der bedeutsame Wert- und Weltsysteme aufsteigen, pse_618.031 und der harten Tatsächlichkeit der Außenwelt, die pse_618.032 aber auch ihre Werte hat. Hier nun erlangt das deutsche pse_618.033 Drama seine unstreitige Bedeutung im Rahmen der Weltliteratur. pse_618.034 Man wird ihm nicht gerecht, wenn man Goethe pse_618.035 und Grillparzer als undramatisch abtut und Kotzebue mehr pse_618.036 Raum in einer Darstellung einräumt als Kleist, Grillparzer pse_618.037 und Grabbe zusammen. Das deutsche Drama, vertreten vor pse_618.038 allem durch Lessing, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 618. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/634>, abgerufen am 23.05.2024.