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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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oder sie geradezu sind. Als wirkliche Feiern wurden ja die pse_614.002
Aufführungen in der Antike erlebt, aber auch die Barockfestaufführungen pse_614.003
an einem Hof oder die Schulaufführungen der pse_614.004
Orden waren Feiern. Ähnliches gilt von Tellaufführungen pse_614.005
in der Schweiz. Auch mit Bayreuth hat Wagner solche Absichten pse_614.006
verfolgt. Die Vielzahl der modernen Festspiele hängt pse_614.007
irgendwie mit dem Drang der Menschen, durch Kunst aus pse_614.008
dem Alltag gehoben zu werden, und mit dem oft auch ungenauen pse_614.009
Wissen, daß Kunst aus dem Alltag wirklich zu erheben pse_614.010
vermag, zusammen. Daß alle diese Veranstaltungen pse_614.011
auch andere Antriebe haben, ist die andere Seite und führt pse_614.012
wieder in die Geschichtlichkeit der Kunst hinüber. In Festaufführungen pse_614.013
hebt schon der Rahmen der Veranstaltung aus pse_614.014
dem Alltag hinaus, die Zuschauer sind in höherer Gestimmtheit pse_614.015
und damit auch innerlich bereiter, das Verwesentlichende pse_614.016
des Dramas zu erfassen. Für die Wirkung eines aufgeführten pse_614.017
Dramas ist aber auch die ständische Gliederung der Zuschauer pse_614.018
wichtig. Bei den alten Griechen waren aus der Menge nur pse_614.019
die Staatsführer und die Priester herausgehoben. Damit schon pse_614.020
wurde das Überalltägliche betont. In den Barockaufführungen pse_614.021
war der Platz des Fürsten in der Mitte zwischen Bühne pse_614.022
und Zuschauern, er verband in seiner Person beide Welten. pse_614.023
Die Adligen nahmen an möglichst sichtbaren Orten Platz: pse_614.024
so stellte eine solche Aufführung den Gesellschaftsaufbau im pse_614.025
kleinen dar. Die ständische Sonderung zeigt sich noch in der pse_614.026
Logenordnung der neueren Theater; man beachte, daß man pse_614.027
auch von "Rängen" spricht. Die Einrichtung, die Herrscherlogen pse_614.028
nach hinten zu verlegen, schafft eine merkwürdige pse_614.029
Spannung: das Publikum ist nun eingespannt zwischen zwei pse_614.030
Polen. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts war die Kunst pse_614.031
des Theaters in eine Gesellschaftsfeier eingebaut. Das Kunstwerk pse_614.032
empfing von der gesellschaftlichen Repräsentation pse_614.033
Wirkungsantrieb. Mit dem späten 19. Jahrhundert geht diese pse_614.034
gesellschaftliche Ordnung langsam in eine ungegliederte pse_614.035
Zuschauermenge über, die erst durch die Wirkung der Aufführung pse_614.036
zu einer höheren Gemeinschaft werden soll.

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Die Wirkung auf diese versammelte Gemeinschaft geht pse_614.038
von folgenden Kräften des Dramas aus. Zunächst und vor

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oder sie geradezu sind. Als wirkliche Feiern wurden ja die pse_614.002
Aufführungen in der Antike erlebt, aber auch die Barockfestaufführungen pse_614.003
an einem Hof oder die Schulaufführungen der pse_614.004
Orden waren Feiern. Ähnliches gilt von Tellaufführungen pse_614.005
in der Schweiz. Auch mit Bayreuth hat Wagner solche Absichten pse_614.006
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irgendwie mit dem Drang der Menschen, durch Kunst aus pse_614.008
dem Alltag gehoben zu werden, und mit dem oft auch ungenauen pse_614.009
Wissen, daß Kunst aus dem Alltag wirklich zu erheben pse_614.010
vermag, zusammen. Daß alle diese Veranstaltungen pse_614.011
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wieder in die Geschichtlichkeit der Kunst hinüber. In Festaufführungen pse_614.013
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und damit auch innerlich bereiter, das Verwesentlichende pse_614.016
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Dramas ist aber auch die ständische Gliederung der Zuschauer pse_614.018
wichtig. Bei den alten Griechen waren aus der Menge nur pse_614.019
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war der Platz des Fürsten in der Mitte zwischen Bühne pse_614.022
und Zuschauern, er verband in seiner Person beide Welten. pse_614.023
Die Adligen nahmen an möglichst sichtbaren Orten Platz: pse_614.024
so stellte eine solche Aufführung den Gesellschaftsaufbau im pse_614.025
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Logenordnung der neueren Theater; man beachte, daß man pse_614.027
auch von »Rängen« spricht. Die Einrichtung, die Herrscherlogen pse_614.028
nach hinten zu verlegen, schafft eine merkwürdige pse_614.029
Spannung: das Publikum ist nun eingespannt zwischen zwei pse_614.030
Polen. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts war die Kunst pse_614.031
des Theaters in eine Gesellschaftsfeier eingebaut. Das Kunstwerk pse_614.032
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Wirkungsantrieb. Mit dem späten 19. Jahrhundert geht diese pse_614.034
gesellschaftliche Ordnung langsam in eine ungegliederte pse_614.035
Zuschauermenge über, die erst durch die Wirkung der Aufführung pse_614.036
zu einer höheren Gemeinschaft werden soll.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 614. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/630>, abgerufen am 18.05.2024.