pse_045.001 aburteilen, Anmut und Frohsinn müssen nicht undichterisch pse_045.002 sein. Zweitens ist die entscheidende Frage immer, ob es dem pse_045.003 Autor gelungen ist, aus den Kräften der Sprache eine Eigenwelt pse_045.004 aufzubauen in der ganzen Fülle und Insichgeschlossenheit, pse_045.005 die wir eben dem ästhetischen Gegenstand zugewiesen pse_045.006 haben. Je vollendeter dieses Sprachkunstwerk, desto mehr pse_045.007 wird es sein und bedeuten. Sprachliche Gestaltungskraft kann pse_045.008 auch in Kriminalromanen da sein und sie zur Dichtung pse_045.009 erheben. Man denke daran, wie gern Schiller nach kriminalistischen pse_045.010 Fällen gesucht hat und wieviel Derartiges etwa in pse_045.011 "Luise Millerin" und noch im "Demetrius" Kunst geworden pse_045.012 ist. Maßstab bleibt immer die echte künstlerische Gestaltung. pse_045.013 Was das ist und inwiefern in einer solchen auch eine wertvolle pse_045.014 und tiefe, auf jeden Fall verwesentlichte Welt erscheint, das pse_045.015 werden wir noch zu überlegen haben.
pse_045.016 Unstreitig eine Stufe tiefer steht der Kitsch, in allen literarischen pse_045.017 Formen vom schmachtenden Liebeslied bis zum großtuerischen pse_045.018 Roman und zur tränenseligen Tragödie. Der pse_045.019 Kitsch in allen Formen, die ja weit über das Literarische pse_045.020 hinausreichen, ist ein Erzeugnis der Zivilisation, der Verstädterung. pse_045.021 Im Laufe der Zivilisation geht die Bewältigung der pse_045.022 Umwelteinwirkungen, die in frühen Stufen zugleich das pse_045.023 Innerste des Menschen aufgewühlt hat, durch Ausbildung pse_045.024 rasch funktionierender, rational ausgearbeiteter Hilfen immer pse_045.025 glatter vonstatten, das Gefühl wird kaum mehr beansprucht pse_045.026 und droht zu verkümmern. Aber das Gefühl will Nahrung pse_045.027 und schafft sich Ersatz. Diesem Ersatz fehlt aber der tiefe pse_045.028 Untergrund, er ist leer, lebensfern und verspielt. Man hat das pse_045.029 sehr schön am Vergleich mit der griechischen Säule gezeigt pse_045.030 (Riezler). In ihr wirken Maß, Harmonie, Heiterkeit und Leichtigkeit pse_045.031 deshalb so lebendig, weil irgendwie das Maßlose, Zerrissene, pse_045.032 Tragische, Schwere überwunden und eben doch noch pse_045.033 spürbar ist. Fällt aber dieser Untergrund weg, ist das Süße, pse_045.034 Sehnsüchtige, Schaurige für sich allein da, dann ist es leer. pse_045.035 Kitsch kommt nicht aus der Tiefe, wirkt nicht in sie, regt pse_045.036 aber wohlig äußere Gefühlsschichten an. Im Kitsch haben wir pse_045.037 es wohl mit einem erscheinenden Gegenstand zu tun, aber in pse_045.038 dieser Erscheinung offenbart sich nichts mehr, die Erscheinung
pse_045.001 aburteilen, Anmut und Frohsinn müssen nicht undichterisch pse_045.002 sein. Zweitens ist die entscheidende Frage immer, ob es dem pse_045.003 Autor gelungen ist, aus den Kräften der Sprache eine Eigenwelt pse_045.004 aufzubauen in der ganzen Fülle und Insichgeschlossenheit, pse_045.005 die wir eben dem ästhetischen Gegenstand zugewiesen pse_045.006 haben. Je vollendeter dieses Sprachkunstwerk, desto mehr pse_045.007 wird es sein und bedeuten. Sprachliche Gestaltungskraft kann pse_045.008 auch in Kriminalromanen da sein und sie zur Dichtung pse_045.009 erheben. Man denke daran, wie gern Schiller nach kriminalistischen pse_045.010 Fällen gesucht hat und wieviel Derartiges etwa in pse_045.011 »Luise Millerin« und noch im »Demetrius« Kunst geworden pse_045.012 ist. Maßstab bleibt immer die echte künstlerische Gestaltung. pse_045.013 Was das ist und inwiefern in einer solchen auch eine wertvolle pse_045.014 und tiefe, auf jeden Fall verwesentlichte Welt erscheint, das pse_045.015 werden wir noch zu überlegen haben.
pse_045.016 Unstreitig eine Stufe tiefer steht der Kitsch, in allen literarischen pse_045.017 Formen vom schmachtenden Liebeslied bis zum großtuerischen pse_045.018 Roman und zur tränenseligen Tragödie. Der pse_045.019 Kitsch in allen Formen, die ja weit über das Literarische pse_045.020 hinausreichen, ist ein Erzeugnis der Zivilisation, der Verstädterung. pse_045.021 Im Laufe der Zivilisation geht die Bewältigung der pse_045.022 Umwelteinwirkungen, die in frühen Stufen zugleich das pse_045.023 Innerste des Menschen aufgewühlt hat, durch Ausbildung pse_045.024 rasch funktionierender, rational ausgearbeiteter Hilfen immer pse_045.025 glatter vonstatten, das Gefühl wird kaum mehr beansprucht pse_045.026 und droht zu verkümmern. Aber das Gefühl will Nahrung pse_045.027 und schafft sich Ersatz. Diesem Ersatz fehlt aber der tiefe pse_045.028 Untergrund, er ist leer, lebensfern und verspielt. Man hat das pse_045.029 sehr schön am Vergleich mit der griechischen Säule gezeigt pse_045.030 (Riezler). In ihr wirken Maß, Harmonie, Heiterkeit und Leichtigkeit pse_045.031 deshalb so lebendig, weil irgendwie das Maßlose, Zerrissene, pse_045.032 Tragische, Schwere überwunden und eben doch noch pse_045.033 spürbar ist. Fällt aber dieser Untergrund weg, ist das Süße, pse_045.034 Sehnsüchtige, Schaurige für sich allein da, dann ist es leer. pse_045.035 Kitsch kommt nicht aus der Tiefe, wirkt nicht in sie, regt pse_045.036 aber wohlig äußere Gefühlsschichten an. Im Kitsch haben wir pse_045.037 es wohl mit einem erscheinenden Gegenstand zu tun, aber in pse_045.038 dieser Erscheinung offenbart sich nichts mehr, die Erscheinung
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aburteilen, Anmut und Frohsinn müssen nicht undichterisch pse_045.002
sein. Zweitens ist die entscheidende Frage immer, ob es dem pse_045.003
Autor gelungen ist, aus den Kräften der Sprache eine Eigenwelt pse_045.004
aufzubauen in der ganzen Fülle und Insichgeschlossenheit, pse_045.005
die wir eben dem ästhetischen Gegenstand zugewiesen pse_045.006
haben. Je vollendeter dieses Sprachkunstwerk, desto mehr pse_045.007
wird es sein und bedeuten. Sprachliche Gestaltungskraft kann pse_045.008
auch in Kriminalromanen da sein und sie zur Dichtung pse_045.009
erheben. Man denke daran, wie gern Schiller nach kriminalistischen pse_045.010
Fällen gesucht hat und wieviel Derartiges etwa in pse_045.011
»Luise Millerin« und noch im »Demetrius« Kunst geworden pse_045.012
ist. Maßstab bleibt immer die echte künstlerische Gestaltung. pse_045.013
Was das ist und inwiefern in einer solchen auch eine wertvolle pse_045.014
und tiefe, auf jeden Fall verwesentlichte Welt erscheint, das pse_045.015
werden wir noch zu überlegen haben.
pse_045.016
Unstreitig eine Stufe tiefer steht der Kitsch, in allen literarischen pse_045.017
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Innerste des Menschen aufgewühlt hat, durch Ausbildung pse_045.024
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Sehnsüchtige, Schaurige für sich allein da, dann ist es leer. pse_045.035
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/61>, abgerufen am 26.11.2024.
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