pse_520.001 das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, pse_520.002 steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. pse_520.003 So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004 Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005 volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006 Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007 der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008 wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009 Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010 dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011 erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012 sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013 besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014 Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in pse_520.015 Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die pse_520.016 Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle pse_520.017 Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die pse_520.018 Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren pse_520.019 keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. pse_520.020 Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021 So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022 wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin pse_520.023 formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024 nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände pse_520.025 haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, pse_520.026 sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie pse_520.027 ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht pse_520.028 größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür pse_520.029 notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. pse_520.030 Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte pse_520.031 Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er pse_520.032 sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung pse_520.033 verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034 dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, pse_520.035 erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert pse_520.036 im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; pse_520.037 die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das pse_520.038 alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere
pse_520.001 das Volksmärchen als Erzählart kennzeichnen, bewußt auf, pse_520.002 steigert sie zu klarer Form und schafft so ein betontes Kunstgebilde. pse_520.003 So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004 Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005 volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006 Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007 der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008 wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009 Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010 dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011 erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012 sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013 besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014 Diesseits. Das Märchen erzählt flächenhaft, es bohrt nicht in pse_520.015 Tiefen der Seele, die Hauptsache ist die reine Handlung, die pse_520.016 Menschen sind Figuren ohne Atmosphäre um sich. Alle pse_520.017 Dinge und Menschen stehen im Märchen für sich, auch die pse_520.018 Episoden bleiben isoliert. Man erkennt das daran, daß Märchenfiguren pse_520.019 keine Erfahrungen machen, nichts hinzulernen. pse_520.020 Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021 So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022 wenn es auch äußerlich wie Zufall aussehen mag. Mithin pse_520.023 formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024 nicht beschrieben, sondern nur genannt, die Gegenstände pse_520.025 haben klare Umrißlinien, solche, die sie an sich schon haben, pse_520.026 sind besonders beliebt: Steine und Metalle. Auch die Handlungslinie pse_520.027 ist deutlich und scharf gezogen. Dadurch entsteht pse_520.028 größte Wirklichkeitsschärfe; die Wunderdinge sind dafür pse_520.029 notwendige Hilfsmittel, alles Krasse gibt eben scharfe Konturierung. pse_520.030 Dazu die Vorliebe für starre Formeln, formelhafte pse_520.031 Anfänge und Schlüsse. Solcher Stil ist hell und bestimmt, er pse_520.032 sieht von allem ab, was die Figuren, die Dinge und die Handlung pse_520.033 verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034 dürften sich beim Kunstmärchen, besonders etwa bei Novalis, pse_520.035 erhebliche Abweichungen finden. Alles Geheimnisvolle verliert pse_520.036 im Volksmärchen so das Numinose, es ist einfach da; pse_520.037 die Menschen sind als reine Figuren völlig schwerelos. Das pse_520.038 alles bedeutet Verlust an Konkretheit, Erlebnistiefe, an Inhaltsschwere
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So sind auch die Kinder- und Hausmärchen der pse_520.004
Brüder Grimm zwar inhaltlich Volksmärchen, im bewußten pse_520.005
volkstümlichen Erzählen aber ausgesprochene Kunstwerke. pse_520.006
Es genügt nicht, wenn man phantastisches Erzählen außerhalb pse_520.007
der Naturgesetze und solches Erzählen, in dem alles ausgeht, pse_520.008
wie man sichs wünscht, als Wesenszüge feststellt. Neuere pse_520.009
Forschung hat tiefer gesehen und uns die künstlerischen Züge pse_520.010
dieser reinen Erzählkunst herausgearbeitet (Lüthi). Das Märchen pse_520.011
erzählt eindimensional. Das Diesseits und das Jenseits pse_520.012
sind zwar äußerlich voneinander entfernt, aber im Inneren pse_520.013
besteht kein Unterschied: das Jenseits wird so gesehen wie das pse_520.014
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Daraus aber ergibt sich die Leichtigkeit, alles mit allem zu verknüpfen. pse_520.021
So erscheint alles im geheimen einander zugeordnet, pse_520.022
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formt sich ein ganz bestimmter Erzählstil: die Figuren werden pse_520.024
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verunklären könnte: abstrakter Stil in diesem Sinn. Hier pse_520.034
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/536>, abgerufen am 24.11.2024.
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