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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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auch unmittelbar in das Geschehen der umrahmenden Handlung pse_516.002
eingreifen, wie das besonders deutlich im "Sinngedicht" pse_516.003
der Fall ist; hier handelt es sich weder um Distanzierung noch pse_516.004
um Erinnerung, sondern um die Beleuchtung eines Zusammenhangs pse_516.005
von anderer Seite, um Motivenverdichtung. Der pse_516.006
Rahmen kann aber auch der Ernüchterung dienen: wenn pse_516.007
etwa märchenhafte und phantastische Binnenerzählungen in pse_516.008
einen ganz alltäglichen Zusammenhang eingebaut werden, pse_516.009
wie das Cervantes mit seinen "Novelas ejemplares" tut. Damit pse_516.010
wird eine Weltspannung lebendig, solche Formung dient pse_516.011
also der Beleuchtung eines besonderen Weltbildes, das im pse_516.012
Hintergrund sichtbar wird. Man hat auch versucht, dieses pse_516.013
Weltbildhafte noch stärker aus der Rahmentechnik herauszulesen. pse_516.014
In den Rahmenerzählungen Boccaccios und Goethes pse_516.015
soll im Rahmen das Chaos, die Ungeordnetheit und Rätselhaftigkeit pse_516.016
der Welt gestaltet sein, während die Binnenerzählungen pse_516.017
die Ordnung schaffen (Lockemann). Diese Formel pse_516.018
geht aber nicht überall auf oder wirkt oft gezwungen. Manchmal pse_516.019
kann auch gerade das Gegenteil gestaltet sein, wie vor pse_516.020
allem eindringlich in der "Schwarzen Spinne", wo die Rahmenerzählung pse_516.021
die ruhige und sichere Ordnung einer gottvertrauenden pse_516.022
und frommen Gemeinschaft gestaltet, die Binnenerzählung pse_516.023
aber den Durchbruch unheimlicher und dämonischer pse_516.024
Kräfte lebendig macht. Der eigentliche künstlerische Sinn des pse_516.025
Rahmens ist die Geschlossenheit und Verdichtung des Kunstwerks. pse_516.026
Er schließt die Binnennovelle als Gebilde für sich deutlich pse_516.027
von allen anderen Bezügen ab und gibt ihr so die vollkommene pse_516.028
innere Ganzheit. Er kann aber auch dadurch, daß pse_516.029
frühere Vorgänge nicht einfach vorangestellt werden, sondern pse_516.030
in ein Ganzes eingefügt sind, diese Vorgänge gegenseitig pse_516.031
spiegeln; durch diese Spiegelung und durch die Einfügung pse_516.032
einer Zeitschicht in eine andere verdichtet sich das Kunstwerk pse_516.033
zu unerhörter Geschlossenheit. So werden die ineinander geschobenen pse_516.034
Schichten in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit pse_516.035
erst recht lebendig. Der Rahmen ist also ein rein künstlerisches pse_516.036
Prinzip, der der Novelle vor allem ihre bewußte, kunstvolle pse_516.037
Form gibt. Er scheint auch nicht unbedingt aus der Gesellschaftskultur pse_516.038
der frühen Renaissance entstanden zu sein.

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auch unmittelbar in das Geschehen der umrahmenden Handlung pse_516.002
eingreifen, wie das besonders deutlich im »Sinngedicht« pse_516.003
der Fall ist; hier handelt es sich weder um Distanzierung noch pse_516.004
um Erinnerung, sondern um die Beleuchtung eines Zusammenhangs pse_516.005
von anderer Seite, um Motivenverdichtung. Der pse_516.006
Rahmen kann aber auch der Ernüchterung dienen: wenn pse_516.007
etwa märchenhafte und phantastische Binnenerzählungen in pse_516.008
einen ganz alltäglichen Zusammenhang eingebaut werden, pse_516.009
wie das Cervantes mit seinen »Novelas ejemplares« tut. Damit pse_516.010
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Weltbildhafte noch stärker aus der Rahmentechnik herauszulesen. pse_516.014
In den Rahmenerzählungen Boccaccios und Goethes pse_516.015
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der Welt gestaltet sein, während die Binnenerzählungen pse_516.017
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geht aber nicht überall auf oder wirkt oft gezwungen. Manchmal pse_516.019
kann auch gerade das Gegenteil gestaltet sein, wie vor pse_516.020
allem eindringlich in der »Schwarzen Spinne«, wo die Rahmenerzählung pse_516.021
die ruhige und sichere Ordnung einer gottvertrauenden pse_516.022
und frommen Gemeinschaft gestaltet, die Binnenerzählung pse_516.023
aber den Durchbruch unheimlicher und dämonischer pse_516.024
Kräfte lebendig macht. Der eigentliche künstlerische Sinn des pse_516.025
Rahmens ist die Geschlossenheit und Verdichtung des Kunstwerks. pse_516.026
Er schließt die Binnennovelle als Gebilde für sich deutlich pse_516.027
von allen anderen Bezügen ab und gibt ihr so die vollkommene pse_516.028
innere Ganzheit. Er kann aber auch dadurch, daß pse_516.029
frühere Vorgänge nicht einfach vorangestellt werden, sondern pse_516.030
in ein Ganzes eingefügt sind, diese Vorgänge gegenseitig pse_516.031
spiegeln; durch diese Spiegelung und durch die Einfügung pse_516.032
einer Zeitschicht in eine andere verdichtet sich das Kunstwerk pse_516.033
zu unerhörter Geschlossenheit. So werden die ineinander geschobenen pse_516.034
Schichten in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit pse_516.035
erst recht lebendig. Der Rahmen ist also ein rein künstlerisches pse_516.036
Prinzip, der der Novelle vor allem ihre bewußte, kunstvolle pse_516.037
Form gibt. Er scheint auch nicht unbedingt aus der Gesellschaftskultur pse_516.038
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[516/0532] pse_516.001 auch unmittelbar in das Geschehen der umrahmenden Handlung pse_516.002 eingreifen, wie das besonders deutlich im »Sinngedicht« pse_516.003 der Fall ist; hier handelt es sich weder um Distanzierung noch pse_516.004 um Erinnerung, sondern um die Beleuchtung eines Zusammenhangs pse_516.005 von anderer Seite, um Motivenverdichtung. Der pse_516.006 Rahmen kann aber auch der Ernüchterung dienen: wenn pse_516.007 etwa märchenhafte und phantastische Binnenerzählungen in pse_516.008 einen ganz alltäglichen Zusammenhang eingebaut werden, pse_516.009 wie das Cervantes mit seinen »Novelas ejemplares« tut. Damit pse_516.010 wird eine Weltspannung lebendig, solche Formung dient pse_516.011 also der Beleuchtung eines besonderen Weltbildes, das im pse_516.012 Hintergrund sichtbar wird. Man hat auch versucht, dieses pse_516.013 Weltbildhafte noch stärker aus der Rahmentechnik herauszulesen. pse_516.014 In den Rahmenerzählungen Boccaccios und Goethes pse_516.015 soll im Rahmen das Chaos, die Ungeordnetheit und Rätselhaftigkeit pse_516.016 der Welt gestaltet sein, während die Binnenerzählungen pse_516.017 die Ordnung schaffen (Lockemann). Diese Formel pse_516.018 geht aber nicht überall auf oder wirkt oft gezwungen. Manchmal pse_516.019 kann auch gerade das Gegenteil gestaltet sein, wie vor pse_516.020 allem eindringlich in der »Schwarzen Spinne«, wo die Rahmenerzählung pse_516.021 die ruhige und sichere Ordnung einer gottvertrauenden pse_516.022 und frommen Gemeinschaft gestaltet, die Binnenerzählung pse_516.023 aber den Durchbruch unheimlicher und dämonischer pse_516.024 Kräfte lebendig macht. Der eigentliche künstlerische Sinn des pse_516.025 Rahmens ist die Geschlossenheit und Verdichtung des Kunstwerks. pse_516.026 Er schließt die Binnennovelle als Gebilde für sich deutlich pse_516.027 von allen anderen Bezügen ab und gibt ihr so die vollkommene pse_516.028 innere Ganzheit. Er kann aber auch dadurch, daß pse_516.029 frühere Vorgänge nicht einfach vorangestellt werden, sondern pse_516.030 in ein Ganzes eingefügt sind, diese Vorgänge gegenseitig pse_516.031 spiegeln; durch diese Spiegelung und durch die Einfügung pse_516.032 einer Zeitschicht in eine andere verdichtet sich das Kunstwerk pse_516.033 zu unerhörter Geschlossenheit. So werden die ineinander geschobenen pse_516.034 Schichten in ihrer Eigenart und Bedeutsamkeit pse_516.035 erst recht lebendig. Der Rahmen ist also ein rein künstlerisches pse_516.036 Prinzip, der der Novelle vor allem ihre bewußte, kunstvolle pse_516.037 Form gibt. Er scheint auch nicht unbedingt aus der Gesellschaftskultur pse_516.038 der frühen Renaissance entstanden zu sein.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/532>, abgerufen am 21.05.2024.