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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Ausformer des ganzen Personenkosmos und seiner ständigen pse_494.002
Verschiebungen und Bewegungen. In Erzählungen in der pse_494.003
Ich-Form ergibt sich eine doppelte Perspektive: das erlebende pse_494.004
Ich steht in mannigfachen Bezügen zu den Personen, so etwa pse_494.005
der Grüne Heinrich zu Anna und Judith. Das erzählende Ich pse_494.006
formt diese ehemals erlebten Beziehungen zu einem Ganzen pse_494.007
bestimmter Art, etwa im "Grünen Heinrich" dieses Verhältnis pse_494.008
zu Anna und Judith in bezug auf die Zukunft: der Tod pse_494.009
Annas, Judith und ihre spätere Funktion. Im personalen Erzählen pse_494.010
ist die Gruppierung je bestimmt durch die Person, von pse_494.011
der aus alles betrachtet wird. Dabei kann diese Person wechseln, pse_494.012
auch auktoriale Teile können eingefügt sein. Besonders lehrreich pse_494.013
ist hier Joyces "Ulysses": das erste personale Medium pse_494.014
ist Stephan Dedalus, erst später Bloom, im Schlußmonolog pse_494.015
Frau Bloom. So wird also die erlebte Welt schon von drei pse_494.016
verschiedenen Blickpunkten aus gestaltet, dazu kommen pse_494.017
auktoriale Teile. Gerade diese mannigfachen Möglichkeiten pse_494.018
ergeben die Fülle der wirklichen Lebensbeziehungen, die die pse_494.019
Erzählkunst gestaltet. Man kann auch sagen, daß die große pse_494.020
Zahl der Standpunkte, von denen aus die Gruppierung der pse_494.021
Personen betrachtet werden kann, geradezu ein Symbol der pse_494.022
Lebensmannigfaltigkeit ist. Durch die Arten des Erzählens pse_494.023
sind diese Möglichkeiten wirklich größer als im Drama, das pse_494.024
hier strenger auswählt und formt.

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Der Unterschied zum Drama eröffnet auch wichtige Einsichten pse_494.026
in die epische Darstellung der Personen. Im Drama pse_494.027
werden die Personen in einer Art Selbstdarstellung herausgestellt, pse_494.028
freilich geschieht diese Selbstdarstellung in der vom pse_494.029
Dichter gewollten Beleuchtung. In der Epik schafft der Erzähler pse_494.030
durch sein Erzählen eine Atmosphäre, eine Umwelt pse_494.031
in der verschiedensten Form. Als Beispiel ein Hinweis auf den pse_494.032
Anfang des 11. Gesangs der "Ilias": Eos steht auf und bringt pse_494.033
den Menschen und Göttern das Licht. Als Zeus sich erhebt, pse_494.034
sendet er Eris, die Göttin des Streites, zu den Schiffen mit pse_494.035
dem Zeichen des Streites und Krieges. Sie stellt sich auf das pse_494.036
Schiff des Odysseus, in der Mitte zwischen denen des Aias und pse_494.037
Achilleus. Dann weckt sie mit lauter Stimme die Achaier. Der pse_494.038
Dichter hat hier also die Menschen in einen ganz bestimmten

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Ausformer des ganzen Personenkosmos und seiner ständigen pse_494.002
Verschiebungen und Bewegungen. In Erzählungen in der pse_494.003
Ich-Form ergibt sich eine doppelte Perspektive: das erlebende pse_494.004
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Annas, Judith und ihre spätere Funktion. Im personalen Erzählen pse_494.010
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Personen betrachtet werden kann, geradezu ein Symbol der pse_494.022
Lebensmannigfaltigkeit ist. Durch die Arten des Erzählens pse_494.023
sind diese Möglichkeiten wirklich größer als im Drama, das pse_494.024
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Der Unterschied zum Drama eröffnet auch wichtige Einsichten pse_494.026
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werden die Personen in einer Art Selbstdarstellung herausgestellt, pse_494.028
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durch sein Erzählen eine Atmosphäre, eine Umwelt pse_494.031
in der verschiedensten Form. Als Beispiel ein Hinweis auf den pse_494.032
Anfang des 11. Gesangs der »Ilias«: Eos steht auf und bringt pse_494.033
den Menschen und Göttern das Licht. Als Zeus sich erhebt, pse_494.034
sendet er Eris, die Göttin des Streites, zu den Schiffen mit pse_494.035
dem Zeichen des Streites und Krieges. Sie stellt sich auf das pse_494.036
Schiff des Odysseus, in der Mitte zwischen denen des Aias und pse_494.037
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[494/0510] pse_494.001 Ausformer des ganzen Personenkosmos und seiner ständigen pse_494.002 Verschiebungen und Bewegungen. In Erzählungen in der pse_494.003 Ich-Form ergibt sich eine doppelte Perspektive: das erlebende pse_494.004 Ich steht in mannigfachen Bezügen zu den Personen, so etwa pse_494.005 der Grüne Heinrich zu Anna und Judith. Das erzählende Ich pse_494.006 formt diese ehemals erlebten Beziehungen zu einem Ganzen pse_494.007 bestimmter Art, etwa im »Grünen Heinrich« dieses Verhältnis pse_494.008 zu Anna und Judith in bezug auf die Zukunft: der Tod pse_494.009 Annas, Judith und ihre spätere Funktion. Im personalen Erzählen pse_494.010 ist die Gruppierung je bestimmt durch die Person, von pse_494.011 der aus alles betrachtet wird. Dabei kann diese Person wechseln, pse_494.012 auch auktoriale Teile können eingefügt sein. Besonders lehrreich pse_494.013 ist hier Joyces »Ulysses«: das erste personale Medium pse_494.014 ist Stephan Dedalus, erst später Bloom, im Schlußmonolog pse_494.015 Frau Bloom. So wird also die erlebte Welt schon von drei pse_494.016 verschiedenen Blickpunkten aus gestaltet, dazu kommen pse_494.017 auktoriale Teile. Gerade diese mannigfachen Möglichkeiten pse_494.018 ergeben die Fülle der wirklichen Lebensbeziehungen, die die pse_494.019 Erzählkunst gestaltet. Man kann auch sagen, daß die große pse_494.020 Zahl der Standpunkte, von denen aus die Gruppierung der pse_494.021 Personen betrachtet werden kann, geradezu ein Symbol der pse_494.022 Lebensmannigfaltigkeit ist. Durch die Arten des Erzählens pse_494.023 sind diese Möglichkeiten wirklich größer als im Drama, das pse_494.024 hier strenger auswählt und formt. pse_494.025 Der Unterschied zum Drama eröffnet auch wichtige Einsichten pse_494.026 in die epische Darstellung der Personen. Im Drama pse_494.027 werden die Personen in einer Art Selbstdarstellung herausgestellt, pse_494.028 freilich geschieht diese Selbstdarstellung in der vom pse_494.029 Dichter gewollten Beleuchtung. In der Epik schafft der Erzähler pse_494.030 durch sein Erzählen eine Atmosphäre, eine Umwelt pse_494.031 in der verschiedensten Form. Als Beispiel ein Hinweis auf den pse_494.032 Anfang des 11. Gesangs der »Ilias«: Eos steht auf und bringt pse_494.033 den Menschen und Göttern das Licht. Als Zeus sich erhebt, pse_494.034 sendet er Eris, die Göttin des Streites, zu den Schiffen mit pse_494.035 dem Zeichen des Streites und Krieges. Sie stellt sich auf das pse_494.036 Schiff des Odysseus, in der Mitte zwischen denen des Aias und pse_494.037 Achilleus. Dann weckt sie mit lauter Stimme die Achaier. Der pse_494.038 Dichter hat hier also die Menschen in einen ganz bestimmten

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/510>, abgerufen am 23.11.2024.