pse_436.001 in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. pse_436.002 Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung pse_436.003 im "Westöstlichen Divan", besonders in den Talismanen. pse_436.004 Das erste:
pse_436.005
Gottes ist der Orient!pse_436.006 Gottes ist der Okzident!pse_436.007 Nord- und südliches Geländepse_436.008 Ruht im Frieden seiner Hände.
pse_436.009
Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten pse_436.010 Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender pse_436.011 Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze pse_436.012 demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte pse_436.013 Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes pse_436.014 Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung pse_436.015 zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich pse_436.016 ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen pse_436.017 Spruch auch vertont.
pse_436.018 In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die pse_436.019 möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an. pse_436.020 Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw. pse_436.021 üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift) pse_436.022 erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist pse_436.023 das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und pse_436.024 Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit pse_436.025 oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:
pse_436.026
Swer zwene wege welle gan,pse_436.027 der muoz lange schenkel han.
pse_436.028
Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die pse_436.029 klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten pse_436.030 Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum pse_436.031 ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort pse_436.032 liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch pse_436.033 Grillparzers lautet:
pse_436.034
Ein Ochs ging auf der Wiese,pse_436.035 Wo er nach Kräften fraß;pse_436.036 Da waren Blumen und Kräuter,pse_436.037 Es kümmert ihn nicht weiter:pse_436.038 Für ihn war alles -- Gras.
pse_436.001 in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. pse_436.002 Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung pse_436.003 im »Westöstlichen Divan«, besonders in den Talismanen. pse_436.004 Das erste:
pse_436.005
Gottes ist der Orient!pse_436.006 Gottes ist der Okzident!pse_436.007 Nord- und südliches Geländepse_436.008 Ruht im Frieden seiner Hände.
pse_436.009
Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten pse_436.010 Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender pse_436.011 Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze pse_436.012 demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte pse_436.013 Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes pse_436.014 Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung pse_436.015 zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich pse_436.016 ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen pse_436.017 Spruch auch vertont.
pse_436.018 In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die pse_436.019 möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an. pse_436.020 Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw. pse_436.021 üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift) pse_436.022 erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist pse_436.023 das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und pse_436.024 Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit pse_436.025 oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:
pse_436.026
Swer zwene wege welle gan,pse_436.027 der muoz lange schenkel han.
pse_436.028
Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die pse_436.029 klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten pse_436.030 Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum pse_436.031 ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort pse_436.032 liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch pse_436.033 Grillparzers lautet:
pse_436.034
Ein Ochs ging auf der Wiese,pse_436.035 Wo er nach Kräften fraß;pse_436.036 Da waren Blumen und Kräuter,pse_436.037 Es kümmert ihn nicht weiter:pse_436.038 Für ihn war alles — Gras.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0452"n="436"/><lbn="pse_436.001"/>
in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. <lbn="pse_436.002"/>
Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung <lbn="pse_436.003"/>
im »Westöstlichen Divan«, besonders in den Talismanen. <lbn="pse_436.004"/>
Das erste:</p><lbn="pse_436.005"/><lg><l><hirendition="#aq">Gottes ist der Orient!</hi></l><lbn="pse_436.006"/><l><hirendition="#aq">Gottes ist der Okzident!</hi></l><lbn="pse_436.007"/><l><hirendition="#aq">Nord- und südliches Gelände</hi></l><lbn="pse_436.008"/><l><hirendition="#aq">Ruht im Frieden seiner Hände.</hi></l></lg><lbn="pse_436.009"/><p>Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten <lbn="pse_436.010"/>
Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender <lbn="pse_436.011"/>
Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze <lbn="pse_436.012"/>
demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte <lbn="pse_436.013"/>
Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes <lbn="pse_436.014"/>
Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung <lbn="pse_436.015"/>
zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich <lbn="pse_436.016"/>
ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen <lbn="pse_436.017"/>
Spruch auch vertont.</p><p><lbn="pse_436.018"/>
In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die <lbn="pse_436.019"/>
möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an. <lbn="pse_436.020"/>
Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw. <lbn="pse_436.021"/>
üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift) <lbn="pse_436.022"/>
erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist <lbn="pse_436.023"/>
das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und <lbn="pse_436.024"/>
Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit <lbn="pse_436.025"/>
oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:</p><lbn="pse_436.026"/><lg><l><hirendition="#aq">Swer zwene wege welle gan,</hi></l><lbn="pse_436.027"/><l><hirendition="#aq">der muoz lange schenkel han.</hi></l></lg><lbn="pse_436.028"/><p>Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die <lbn="pse_436.029"/>
klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten <lbn="pse_436.030"/>
Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum <lbn="pse_436.031"/>
ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort <lbn="pse_436.032"/>
liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch <lbn="pse_436.033"/>
Grillparzers lautet:</p><lbn="pse_436.034"/><lg><l><hirendition="#aq">Ein Ochs ging auf der Wiese,</hi></l><lbn="pse_436.035"/><l><hirendition="#aq">Wo er nach Kräften fraß;</hi></l><lbn="pse_436.036"/><l><hirendition="#aq">Da waren Blumen und Kräuter,</hi></l><lbn="pse_436.037"/><l><hirendition="#aq">Es kümmert ihn nicht weiter:</hi></l><lbn="pse_436.038"/><l><hirendition="#aq">Für ihn war alles — Gras.</hi></l></lg></div></div></div></body></text></TEI>
[436/0452]
pse_436.001
in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. pse_436.002
Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung pse_436.003
im »Westöstlichen Divan«, besonders in den Talismanen. pse_436.004
Das erste:
pse_436.005
Gottes ist der Orient! pse_436.006
Gottes ist der Okzident! pse_436.007
Nord- und südliches Gelände pse_436.008
Ruht im Frieden seiner Hände.
pse_436.009
Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten pse_436.010
Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender pse_436.011
Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze pse_436.012
demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte pse_436.013
Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes pse_436.014
Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung pse_436.015
zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich pse_436.016
ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen pse_436.017
Spruch auch vertont.
pse_436.018
In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die pse_436.019
möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an. pse_436.020
Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw. pse_436.021
üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift) pse_436.022
erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist pse_436.023
das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und pse_436.024
Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit pse_436.025
oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:
pse_436.026
Swer zwene wege welle gan, pse_436.027
der muoz lange schenkel han.
pse_436.028
Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die pse_436.029
klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten pse_436.030
Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum pse_436.031
ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort pse_436.032
liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch pse_436.033
Grillparzers lautet:
pse_436.034
Ein Ochs ging auf der Wiese, pse_436.035
Wo er nach Kräften fraß; pse_436.036
Da waren Blumen und Kräuter, pse_436.037
Es kümmert ihn nicht weiter: pse_436.038
Für ihn war alles — Gras.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/452>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.