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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. pse_436.002
Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung pse_436.003
im "Westöstlichen Divan", besonders in den Talismanen. pse_436.004
Das erste:

pse_436.005
Gottes ist der Orient! pse_436.006
Gottes ist der Okzident! pse_436.007
Nord- und südliches Gelände pse_436.008
Ruht im Frieden seiner Hände.
pse_436.009

Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten pse_436.010
Sätzen. Der dritte Vers ist schon weicher (klingender pse_436.011
Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze pse_436.012
demutvolle und ehrfürchtige, aber zugleich tief beglückte pse_436.013
Haltung eines ins Innerste Ergriffenen lebendig wird: jedes pse_436.014
Wort atmet den Frieden, und alle wirken in dauernder Vereindringlichung pse_436.015
zusammen. In solchen Sprüchen ist wirklich pse_436.016
ein Grenzfall zum Lied erreicht. R. Schumann hat diesen pse_436.017
Spruch auch vertont.

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In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die pse_436.019
möglichst scharfe, knappe Prägung des erlebten Gehalts an. pse_436.020
Weil diese Art als Aufschrift an Grabmälern, Torbögen usw. pse_436.021
üblich war, hat sie den Namen Epigramm (wörtlich: Aufschrift) pse_436.022
erhalten. Die scharfe Zuspitzung eines Gedankens ist pse_436.023
das Wesentliche. Der Sprecher ist von dieser Schärfe und pse_436.024
Verknappung selbst ergriffen, daher die Bildklarheit, die damit pse_436.025
oft heftige Spannung erzeugt. So schon bei Freidank:

pse_436.026
Swer zwene wege welle gan, pse_436.027
der muoz lange schenkel han.
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Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die pse_436.029
klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten pse_436.030
Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum pse_436.031
ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort pse_436.032
liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch pse_436.033
Grillparzers lautet:

pse_436.034
Ein Ochs ging auf der Wiese, pse_436.035
Wo er nach Kräften fraß; pse_436.036
Da waren Blumen und Kräuter, pse_436.037
Es kümmert ihn nicht weiter: pse_436.038
Für ihn war alles -- Gras.

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in einem unvergeßlichen Bild, durch das Tiefe aufleuchtet. pse_436.002
Höchste Vollendung erreicht solche Spruchdichtung pse_436.003
im »Westöstlichen Divan«, besonders in den Talismanen. pse_436.004
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pse_436.005
Gottes ist der Orient! pse_436.006
Gottes ist der Okzident! pse_436.007
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Ruht im Frieden seiner Hände.
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Prächtiger Einsatz entfaltet die ganze Größe Gottes in knappsten pse_436.010
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Versschluß) und führt in den vierten über, wo nun die ganze pse_436.012
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In der zweiten Art von Spruchdichtung kommt es auf die pse_436.019
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pse_436.026
Swer zwene wege welle gan, pse_436.027
der muoz lange schenkel han.
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Immer kommt es also auch bei den Epigrammen auf die pse_436.029
klare Prägung in ein Bild an. Meist erfolgt dann in der zweiten pse_436.030
Hälfte der Umschlag, der aber nur wirkt in bezug zum pse_436.031
ersten Teil. Oft kann der Umschlag erst im letzten Wort pse_436.032
liegen und vorher nur leise angedeutet sein. Ein Spruch pse_436.033
Grillparzers lautet:

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Ein Ochs ging auf der Wiese, pse_436.035
Wo er nach Kräften fraß; pse_436.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/452>, abgerufen am 20.05.2024.