pse_427.001 nun in starker Spannung zur durchgehenden Satzbewegung, pse_427.002 die über die Verse, oft über die Strophe hinausgeführt wird. pse_427.003 Dazu tritt eine Reihung der Worte, die dem Üblichen sich pse_427.004 fernhält, die jeden Ausschnitt der erlebten Welt immer wieder pse_427.005 neu unmittelbar aufgreift. Die Ode ist eine lyrische Art, pse_427.006 die durch alle Jahrhunderte seit den alten Griechen gepflegt pse_427.007 wurde. Sie steht im schärfsten Gegensatz zum Lied und stellt pse_427.008 so einen anderen Pol der Lyrik dar. Angespanntheit, Distanz pse_427.009 und wertendes Schauen neben tiefster Ergriffenheit vom Gewerteten pse_427.010 schaffen eine besondere seelische Höhenlage. Das pse_427.011 Gemeinsame aber zum Lied ist ebenso deutlich: unmittelbares, pse_427.012 in das tiefe Innere hineingreifendes Welterfassen.
pse_427.013
Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!pse_427.014 Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,pse_427.015 Daß williger mein Herz, vom süßenpse_427.016 Spiele gesättiget, dann mir sterbe!
pse_427.017 Die Seele, der im Leben ihr göttlich Rechtpse_427.018 Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;pse_427.019 Doch ist mir einst das Heilge, das ampse_427.020 Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:
pse_427.021 Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!pse_427.022 Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspielpse_427.023 Mich nicht hinabgeleitet; einmalpse_427.024 Lebt' ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
pse_427.025 (Hölderlin, An die Parzen)
pse_427.026 Die gesteigertste Form der Lyrik ist die Hymne. Man darf pse_427.027 bei diesem Namen nicht an die frühchristliche Hymnendichtung pse_427.028 denken, die vielmehr in ihrem Strophenbau und der pse_427.029 Durchführung des Endreims nach unserer Bezeichnung als pse_427.030 Gesang anzusehen ist. Eher sind die frühmittelalterlichen Sequenzen pse_427.031 und die mittelalterlichen Leiche in ihre Nähe zu pse_427.032 rücken. Ursprünglich waren die Hymnen Kultgesänge. Die pse_427.033 große Zeit der deutschen Hymnendichtung ist die Goethezeit. pse_427.034 Hier fehlt der Bezug zu einer Gemeinschaft, wie er in pse_427.035 der Kultdichtung vorhanden ist. Ein einzelner läßt sich aus pse_427.036 höchster Gehobenheit vernehmen. Die Grenzen zur Ode sind pse_427.037 nicht immer leicht anzugeben. Denn die Bereiche, die das
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pse_427.013
Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!pse_427.014 Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,pse_427.015 Daß williger mein Herz, vom süßenpse_427.016 Spiele gesättiget, dann mir sterbe!
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pse_427.025 (Hölderlin, An die Parzen)
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Gemeinsame aber zum Lied ist ebenso deutlich: unmittelbares, pse_427.012
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Die gesteigertste Form der Lyrik ist die Hymne. Man darf pse_427.027
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/443>, abgerufen am 22.11.2024.
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