pse_395.001 in stärkster Weise. Das Dinggedicht, wie es in reiner pse_395.002 Form besonders in der Zeitspanne zwischen Meyer und Rilke pse_395.003 heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen, pse_395.004 Apollo-Torso), die schon an sich durch das pse_395.005 Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um pse_395.006 sie in der Sprache zu ergreifen und neu zu formen, muß pse_395.007 gerade hier besondere Kunststrenge und Formvollendetheit pse_395.008 erstrebt werden. In der sprachlichen Formung werden dann pse_395.009 diese Kunstgebilde vielfach zu Symbolen für irgendeinen Zug pse_395.010 des Menschlichen. Das ist nur möglich, wenn sie in besonderer pse_395.011 Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade pse_395.012 dieses sprachliche Umformen ist aber eine eindeutig geistige pse_395.013 Leistung, ein Ergreifen einer außersprachlichen Wirklichkeit pse_395.014 und ihre Verdichtung. Solche Leistung ist nur aus tiefstem pse_395.015 Versenken, aus Erleben möglich. Und in der sprachlichen pse_395.016 Durchführung und der Formzucht wird diese Innerlichkeit, pse_395.017 die sich dem Gebilde stellt, selbst Gestalt. Es ist aber auch eine pse_395.018 andere Richtung möglich: daß nämlich das Gebilde als etwas pse_395.019 dem Menschen Fremdes erlebt wird; hier entfaltet sich der pse_395.020 Eindruck der Entfremdung, der Fremdheit, dessen, was den pse_395.021 Menschen von außen her bedroht. Aber auch diese entfremdende pse_395.022 sprachliche Neuformung geht nicht aus Gleichgültigkeit pse_395.023 hervor, man spürt in solcher Gestaltung den inneren pse_395.024 Schauer, mit der sie geleistet wird. Dringt solche Fremdheit in pse_395.025 hohe Bereiche, so wird etwas wie Schicksalsmacht lebendig. pse_395.026 Eine letzte Möglichkeit des Dinggedichts liegt dann darin, pse_395.027 daß es durch die erfaßten Dinge hindurch zum Sein selbst vordringen pse_395.028 will, wie das gerade bei Rilke zu beobachten ist.
pse_395.029 Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks, pse_395.030 das in voller Formenstrenge selbst nur Gebilde sein pse_395.031 will, tritt gewiß das lyrische Ich zurück. Man wird hier den pse_395.032 Ausdruck Erlebnisgedicht kaum gebrauchen können. Trotzdem pse_395.033 aber ist das lyrische Ich, der Mensch, der dieses Gedicht pse_395.034 spricht, nicht ausgeschaltet. Denn daß das Ding in bestimmter pse_395.035 Weise gesehen wird, daß es in der Sprache neu gestaltet wird, pse_395.036 daß es gedeutet wird und so zum Symbol werden kann, das pse_395.037 alles beweist, daß das Ding in bestimmter Weise erfaßt wird, pse_395.038 daß jemand um sein Wesen ringt. Da bricht das Menschliche
pse_395.001 in stärkster Weise. Das Dinggedicht, wie es in reiner pse_395.002 Form besonders in der Zeitspanne zwischen Meyer und Rilke pse_395.003 heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen, pse_395.004 Apollo-Torso), die schon an sich durch das pse_395.005 Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um pse_395.006 sie in der Sprache zu ergreifen und neu zu formen, muß pse_395.007 gerade hier besondere Kunststrenge und Formvollendetheit pse_395.008 erstrebt werden. In der sprachlichen Formung werden dann pse_395.009 diese Kunstgebilde vielfach zu Symbolen für irgendeinen Zug pse_395.010 des Menschlichen. Das ist nur möglich, wenn sie in besonderer pse_395.011 Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade pse_395.012 dieses sprachliche Umformen ist aber eine eindeutig geistige pse_395.013 Leistung, ein Ergreifen einer außersprachlichen Wirklichkeit pse_395.014 und ihre Verdichtung. Solche Leistung ist nur aus tiefstem pse_395.015 Versenken, aus Erleben möglich. Und in der sprachlichen pse_395.016 Durchführung und der Formzucht wird diese Innerlichkeit, pse_395.017 die sich dem Gebilde stellt, selbst Gestalt. Es ist aber auch eine pse_395.018 andere Richtung möglich: daß nämlich das Gebilde als etwas pse_395.019 dem Menschen Fremdes erlebt wird; hier entfaltet sich der pse_395.020 Eindruck der Entfremdung, der Fremdheit, dessen, was den pse_395.021 Menschen von außen her bedroht. Aber auch diese entfremdende pse_395.022 sprachliche Neuformung geht nicht aus Gleichgültigkeit pse_395.023 hervor, man spürt in solcher Gestaltung den inneren pse_395.024 Schauer, mit der sie geleistet wird. Dringt solche Fremdheit in pse_395.025 hohe Bereiche, so wird etwas wie Schicksalsmacht lebendig. pse_395.026 Eine letzte Möglichkeit des Dinggedichts liegt dann darin, pse_395.027 daß es durch die erfaßten Dinge hindurch zum Sein selbst vordringen pse_395.028 will, wie das gerade bei Rilke zu beobachten ist.
pse_395.029 Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks, pse_395.030 das in voller Formenstrenge selbst nur Gebilde sein pse_395.031 will, tritt gewiß das lyrische Ich zurück. Man wird hier den pse_395.032 Ausdruck Erlebnisgedicht kaum gebrauchen können. Trotzdem pse_395.033 aber ist das lyrische Ich, der Mensch, der dieses Gedicht pse_395.034 spricht, nicht ausgeschaltet. Denn daß das Ding in bestimmter pse_395.035 Weise gesehen wird, daß es in der Sprache neu gestaltet wird, pse_395.036 daß es gedeutet wird und so zum Symbol werden kann, das pse_395.037 alles beweist, daß das Ding in bestimmter Weise erfaßt wird, pse_395.038 daß jemand um sein Wesen ringt. Da bricht das Menschliche
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heraustritt, ergreift immer deutlicher Kunstgebilde (Michelangelo-Statuen, pse_395.004
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Wesen des Kunstwerks starke Geschlossenheit aufweisen. Um pse_395.006
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Weise umgeformt und verdichtet werden. Gerade pse_395.012
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Im Dinggedicht als der reinsten Form jenes lyrischen Kunstwerks, pse_395.030
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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