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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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diese Vorgänge sind die vom lyrischen Ich ergriffenen Weltbereiche, pse_385.002
sind sein unmittelbares Erlebnis. Eine andere Überlegung pse_385.003
kann noch weiter klären. Im bekannten Rilke-Gedicht pse_385.004
"Der Panther" werden in jeder Strophe Vorgänge gestaltet: in pse_385.005
der ersten das Schauen, in der zweiten das Schreiten des Panthers pse_385.006
im Käfig. In der dritten Strophe das erregend geschilderte pse_385.007
Hineinschreiten eines Bildes in das Innere und sein Sterben. pse_385.008
Und doch kann auch hier nicht von einem Vorgang in pse_385.009
seiner Geschlossenheit gesprochen werden. Zunächst sind es pse_385.010
drei verschiedene, die sich nicht zur Geschlossenheit eines umfassenden pse_385.011
Vorgangs zusammenfinden, und dann sind es wiederholte pse_385.012
Vorgänge, auch der dritte wird mit "manchmal" eingeleitet. pse_385.013
Mit der Darstellung von etwas Dauerndem verliert das pse_385.014
Ganze den Eindruck einer geschlossenen Vorgangswelt, die pse_385.015
dargestellt wird, es ist eine Art Zustand, der dem Dichter pse_385.016
einen tiefen Eindruck macht und den er mit diesem Eindruck pse_385.017
formt. Die lyrischen Einlagen in epischen Dichtungen geben pse_385.018
auch Gelegenheit, sich auf das Wesen des Lyrischen zu besinnen. pse_385.019
Man kann zwei Arten unterscheiden. Das eine Mal pse_385.020
werden sie den Personen der Erzählung in den Mund gelegt. pse_385.021
Es ist also eine echte lyrische Gestaltung aus dem Erleben pse_385.022
einer Person. Wenn dagegen, wie oft bei Eichendorff, aber pse_385.023
nicht immer, und auch bei anderen Romantikern, die Erzählung pse_385.024
unterbrochen wird durch ein lyrisches Gedicht, so liegt pse_385.025
ein anderer Fall vor. Es muß nicht unbedingt ein Bruch in der pse_385.026
epischen Kunstform sein, obwohl das in der schablonenhaften pse_385.027
Verwendung lyrischer Einlagen in manchen pseudoromantischen pse_385.028
Erzählungen durchaus der Fall ist. Wenn das pse_385.029
lyrische Gedicht nicht einer Person der Erzählung zugewiesen pse_385.030
werden kann, dann ist es der Erzähler, der nun zu singen pse_385.031
beginnt. Er ist selbst gleichsam vom Erzählten ergriffen, so pse_385.032
wie oft der Balladendichter, und singt aus dieser Ergriffenheit pse_385.033
heraus. Sicher wird der epische Fortgang unterbrochen, pse_385.034
genau so wie in der griechischen Tragödie die Handlung pse_385.035
durch die Chorhymnen. Das kann zunächst die rein menschliche pse_385.036
Stimmung des ganzen Kunstwerks eindringlicher machen, pse_385.037
es kann aber auch wirkungsvolle Pausen, Entspannungen pse_385.038
oder Anspannungen in den Ablauf hineinlegen. Vom

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diese Vorgänge sind die vom lyrischen Ich ergriffenen Weltbereiche, pse_385.002
sind sein unmittelbares Erlebnis. Eine andere Überlegung pse_385.003
kann noch weiter klären. Im bekannten Rilke-Gedicht pse_385.004
»Der Panther« werden in jeder Strophe Vorgänge gestaltet: in pse_385.005
der ersten das Schauen, in der zweiten das Schreiten des Panthers pse_385.006
im Käfig. In der dritten Strophe das erregend geschilderte pse_385.007
Hineinschreiten eines Bildes in das Innere und sein Sterben. pse_385.008
Und doch kann auch hier nicht von einem Vorgang in pse_385.009
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Vorgangs zusammenfinden, und dann sind es wiederholte pse_385.012
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Man kann zwei Arten unterscheiden. Das eine Mal pse_385.020
werden sie den Personen der Erzählung in den Mund gelegt. pse_385.021
Es ist also eine echte lyrische Gestaltung aus dem Erleben pse_385.022
einer Person. Wenn dagegen, wie oft bei Eichendorff, aber pse_385.023
nicht immer, und auch bei anderen Romantikern, die Erzählung pse_385.024
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ein anderer Fall vor. Es muß nicht unbedingt ein Bruch in der pse_385.026
epischen Kunstform sein, obwohl das in der schablonenhaften pse_385.027
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Erzählungen durchaus der Fall ist. Wenn das pse_385.029
lyrische Gedicht nicht einer Person der Erzählung zugewiesen pse_385.030
werden kann, dann ist es der Erzähler, der nun zu singen pse_385.031
beginnt. Er ist selbst gleichsam vom Erzählten ergriffen, so pse_385.032
wie oft der Balladendichter, und singt aus dieser Ergriffenheit pse_385.033
heraus. Sicher wird der epische Fortgang unterbrochen, pse_385.034
genau so wie in der griechischen Tragödie die Handlung pse_385.035
durch die Chorhymnen. Das kann zunächst die rein menschliche pse_385.036
Stimmung des ganzen Kunstwerks eindringlicher machen, pse_385.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/401>, abgerufen am 20.05.2024.