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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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II pse_022.002
DICHTUNG UND SPRACHE
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Sprache und Sprachwerke

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Um einen Einblick in das Wesen der Sprache zu bekommen, pse_022.005
darf man nicht von der Meinung ausgehen, die Sprache sei vor pse_022.006
allem ein Mittel der Verständigung. Wir besinnen uns einen pse_022.007
Augenblick auf die Leistung des Wortes. Es ist eine eigenartige pse_022.008
Beobachtung: man merkt sich die Form eines Berges, den pse_022.009
man einmal gesehen hat, wenn man seinen Namen im Gedächtnis pse_022.010
behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges. pse_022.011
Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten pse_022.012
und unterscheiden, indem es ihnen entweder übernommene pse_022.013
oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung pse_022.014
einen zunächst undeutlichen Gegenstand gewahren und pse_022.015
ihn dann erkennen, so sprechen wir -- wenn vielleicht auch pse_022.016
nur innerlich -- bei dieser Erkennung seinen Namen aus. Wir pse_022.017
verallgemeinern: mit dem Wort heben wir aus dem Strom pse_022.018
der Erfahrungen bestimmte uns im Augenblick wichtige pse_022.019
Teile heraus und machen sie durch die Benennung zu "Gegenständen". pse_022.020
Im Wort bewahren wir die so erfaßten Gegenstände pse_022.021
auf, und im Wort stehen sie uns geistig für später pse_022.022
jederzeit zur Verfügung. Das Wort umgrenzt also Erfahrungsstücke, pse_022.023
bewahrt vor Verschwommenheit der Erfassung, pse_022.024
macht diese Stücke zu Gegenständen und hebt sie in Dauerprägung pse_022.025
für jederzeitige spätere Verfügung aus dem vorbeifließenden pse_022.026
Strom heraus. Auf den gesamten Wortschatz pse_022.027
einer Sprachgemeinschaft hin betrachtet, heißt das: wir halten pse_022.028
die Gesamtheit der Erfahrungen in einer Fülle von Gegenständen pse_022.029
fest, im Wortschatz stehen uns die Gegenstände pse_022.030
unserer Welt jederzeit zur Verfügung. Wir erzeugen uns so pse_022.031
die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche pse_022.032
nie bewältigen könnten. Die Zusammenhänge zwischen pse_022.033
diesen Gegenständen und ihren Aufbau zur Gesamtheit

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Sprache und Sprachwerke

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Um einen Einblick in das Wesen der Sprache zu bekommen, pse_022.005
darf man nicht von der Meinung ausgehen, die Sprache sei vor pse_022.006
allem ein Mittel der Verständigung. Wir besinnen uns einen pse_022.007
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behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges. pse_022.011
Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten pse_022.012
und unterscheiden, indem es ihnen entweder übernommene pse_022.013
oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung pse_022.014
einen zunächst undeutlichen Gegenstand gewahren und pse_022.015
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auf, und im Wort stehen sie uns geistig für später pse_022.022
jederzeit zur Verfügung. Das Wort umgrenzt also Erfahrungsstücke, pse_022.023
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unserer Welt jederzeit zur Verfügung. Wir erzeugen uns so pse_022.031
die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche pse_022.032
nie bewältigen könnten. Die Zusammenhänge zwischen pse_022.033
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/38>, abgerufen am 28.03.2024.