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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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des Menschen eng zusammenhängen. Denn in allem pse_350.002
Betroffensein von der Welt, vom Sein wird der Mensch vor pse_350.003
allem von der Tatsache erregt, daß alles Sein Zeit ist. Wir pse_350.004
können uns in den Strom der Vergänglichkeit hineinfühlen, pse_350.005
zurücksinken in die Erinnerung; wir können vom Ufer der pse_350.006
Gegenwart aus gleichsam dem Strom zuschauen; wir können pse_350.007
auch auf das hin angespannt sein, was erst kommt. Der Zusammenhang pse_350.008
der dichterischen Gestaltungsweisen mit dem pse_350.009
menschlichen Zeitbezug ist nicht ganz eindeutig, aber man pse_350.010
kann doch wohl am ehesten so sagen: In der Offenbarung pse_350.011
eines gegebenen Zustandes wird uns die Gegenwart bewußt, pse_350.012
die Zeitlichkeit ist hier ganz ohne Beschwernis und Angespanntheit. pse_350.013
Auch das, was im Zurückwenden erfaßt wird, pse_350.014
wird in die Strömung des seelischen Erlebens hereingenommen. pse_350.015
Wir nähern uns hier deutlich dem Lyrischen, wobei pse_350.016
wir nun die Worte im Sinne Staigers nehmen. Vergangenes pse_350.017
Geschehen kann in der dichterischen Gestaltung erinnernd beschworen, pse_350.018
wieder in die Gegenwart heraufgehoben werden, pse_350.019
aber doch zugleich als Vergangenes bewußt bleiben: eine pse_350.020
Grundhaltung des Epischen. Wieder anders ist unsere Haltung pse_350.021
gegenüber dem Zukünftigen: Hier spielen Sorge und Angespanntheit pse_350.022
eine entscheidende Rolle. Da taucht die Atmosphäre pse_350.023
des Schicksals auf. Wir spüren das auch dann, wenn pse_350.024
Vergangenes langsam enthüllt wird. Im "Ödipus" ist alles, was pse_350.025
enthüllt wird, schon längst vergangen, aber wir sind angespannt pse_350.026
auf seine Enthüllung, die in der Zukunft liegt. Hier ist pse_350.027
das Zeiterleben besonders deutlich. Wir sind im Bereich pse_350.028
dramatischen Gestaltens.

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1. Die eine Grundhaltung können wir in kleiner Abänderung pse_350.030
von Staigers Ausdruck als Verinnerung bezeichnen. Es ist pse_350.031
eine Stimmung, in der wir in den Dingen sind und sie in uns: pse_350.032
wir gehen in dem Stück Welt, das uns begegnet, auf und pse_350.033
nehmen es in unser Inneres ganz herein. Solche Stimmung pse_350.034
erschließt uns das Dasein unmittelbarer als Anschauung oder pse_350.035
Begriff. "Alles Seiende ... ist in der Stimmung nicht Gegenstand, pse_350.036
sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von pse_350.037
Mensch und Natur in der lyrischen Poesie" (Staiger). Es fehlt pse_350.038
jeder Abstand zwischen Subjekt und Objekt, es ist ein völliges

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des Menschen eng zusammenhängen. Denn in allem pse_350.002
Betroffensein von der Welt, vom Sein wird der Mensch vor pse_350.003
allem von der Tatsache erregt, daß alles Sein Zeit ist. Wir pse_350.004
können uns in den Strom der Vergänglichkeit hineinfühlen, pse_350.005
zurücksinken in die Erinnerung; wir können vom Ufer der pse_350.006
Gegenwart aus gleichsam dem Strom zuschauen; wir können pse_350.007
auch auf das hin angespannt sein, was erst kommt. Der Zusammenhang pse_350.008
der dichterischen Gestaltungsweisen mit dem pse_350.009
menschlichen Zeitbezug ist nicht ganz eindeutig, aber man pse_350.010
kann doch wohl am ehesten so sagen: In der Offenbarung pse_350.011
eines gegebenen Zustandes wird uns die Gegenwart bewußt, pse_350.012
die Zeitlichkeit ist hier ganz ohne Beschwernis und Angespanntheit. pse_350.013
Auch das, was im Zurückwenden erfaßt wird, pse_350.014
wird in die Strömung des seelischen Erlebens hereingenommen. pse_350.015
Wir nähern uns hier deutlich dem Lyrischen, wobei pse_350.016
wir nun die Worte im Sinne Staigers nehmen. Vergangenes pse_350.017
Geschehen kann in der dichterischen Gestaltung erinnernd beschworen, pse_350.018
wieder in die Gegenwart heraufgehoben werden, pse_350.019
aber doch zugleich als Vergangenes bewußt bleiben: eine pse_350.020
Grundhaltung des Epischen. Wieder anders ist unsere Haltung pse_350.021
gegenüber dem Zukünftigen: Hier spielen Sorge und Angespanntheit pse_350.022
eine entscheidende Rolle. Da taucht die Atmosphäre pse_350.023
des Schicksals auf. Wir spüren das auch dann, wenn pse_350.024
Vergangenes langsam enthüllt wird. Im »Ödipus« ist alles, was pse_350.025
enthüllt wird, schon längst vergangen, aber wir sind angespannt pse_350.026
auf seine Enthüllung, die in der Zukunft liegt. Hier ist pse_350.027
das Zeiterleben besonders deutlich. Wir sind im Bereich pse_350.028
dramatischen Gestaltens.

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1. Die eine Grundhaltung können wir in kleiner Abänderung pse_350.030
von Staigers Ausdruck als Verinnerung bezeichnen. Es ist pse_350.031
eine Stimmung, in der wir in den Dingen sind und sie in uns: pse_350.032
wir gehen in dem Stück Welt, das uns begegnet, auf und pse_350.033
nehmen es in unser Inneres ganz herein. Solche Stimmung pse_350.034
erschließt uns das Dasein unmittelbarer als Anschauung oder pse_350.035
Begriff. »Alles Seiende ... ist in der Stimmung nicht Gegenstand, pse_350.036
sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von pse_350.037
Mensch und Natur in der lyrischen Poesie« (Staiger). Es fehlt pse_350.038
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[350/0366] pse_350.001 des Menschen eng zusammenhängen. Denn in allem pse_350.002 Betroffensein von der Welt, vom Sein wird der Mensch vor pse_350.003 allem von der Tatsache erregt, daß alles Sein Zeit ist. Wir pse_350.004 können uns in den Strom der Vergänglichkeit hineinfühlen, pse_350.005 zurücksinken in die Erinnerung; wir können vom Ufer der pse_350.006 Gegenwart aus gleichsam dem Strom zuschauen; wir können pse_350.007 auch auf das hin angespannt sein, was erst kommt. Der Zusammenhang pse_350.008 der dichterischen Gestaltungsweisen mit dem pse_350.009 menschlichen Zeitbezug ist nicht ganz eindeutig, aber man pse_350.010 kann doch wohl am ehesten so sagen: In der Offenbarung pse_350.011 eines gegebenen Zustandes wird uns die Gegenwart bewußt, pse_350.012 die Zeitlichkeit ist hier ganz ohne Beschwernis und Angespanntheit. pse_350.013 Auch das, was im Zurückwenden erfaßt wird, pse_350.014 wird in die Strömung des seelischen Erlebens hereingenommen. pse_350.015 Wir nähern uns hier deutlich dem Lyrischen, wobei pse_350.016 wir nun die Worte im Sinne Staigers nehmen. Vergangenes pse_350.017 Geschehen kann in der dichterischen Gestaltung erinnernd beschworen, pse_350.018 wieder in die Gegenwart heraufgehoben werden, pse_350.019 aber doch zugleich als Vergangenes bewußt bleiben: eine pse_350.020 Grundhaltung des Epischen. Wieder anders ist unsere Haltung pse_350.021 gegenüber dem Zukünftigen: Hier spielen Sorge und Angespanntheit pse_350.022 eine entscheidende Rolle. Da taucht die Atmosphäre pse_350.023 des Schicksals auf. Wir spüren das auch dann, wenn pse_350.024 Vergangenes langsam enthüllt wird. Im »Ödipus« ist alles, was pse_350.025 enthüllt wird, schon längst vergangen, aber wir sind angespannt pse_350.026 auf seine Enthüllung, die in der Zukunft liegt. Hier ist pse_350.027 das Zeiterleben besonders deutlich. Wir sind im Bereich pse_350.028 dramatischen Gestaltens. pse_350.029 1. Die eine Grundhaltung können wir in kleiner Abänderung pse_350.030 von Staigers Ausdruck als Verinnerung bezeichnen. Es ist pse_350.031 eine Stimmung, in der wir in den Dingen sind und sie in uns: pse_350.032 wir gehen in dem Stück Welt, das uns begegnet, auf und pse_350.033 nehmen es in unser Inneres ganz herein. Solche Stimmung pse_350.034 erschließt uns das Dasein unmittelbarer als Anschauung oder pse_350.035 Begriff. »Alles Seiende ... ist in der Stimmung nicht Gegenstand, pse_350.036 sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von pse_350.037 Mensch und Natur in der lyrischen Poesie« (Staiger). Es fehlt pse_350.038 jeder Abstand zwischen Subjekt und Objekt, es ist ein völliges

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/366>, abgerufen am 13.05.2024.