Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
pse_344.001
I pse_344.002
DIE AUSGANGSPUNKTE
pse_344.003
Vorfragen
pse_344.004

Mit der Betrachtung der Dichtungsgattungen und -arten pse_344.005
betreten wir ein sehr bekanntes, aber sehr schwieriges Gebiet. pse_344.006
Die verschiedensten Fragen drängen sich auf. Soll man nach pse_344.007
Formen, Gattungen, Arten, nach Typen oder gar Urphänomenen pse_344.008
einteilen? Lassen sich alle Dichtungen klassifizieren, pse_344.009
oder gibt es Mischformen? Sind die reinen oder die Mischformen pse_344.010
die wertvolleren? Ist die Einteilung rein theoretisch pse_344.011
aus Einsichten in das Wesen der Dichtung vorzunehmen, oder pse_344.012
spielen geschichtliche Tatsachen auch eine Rolle? Endlich: Was pse_344.013
ist mit solchen Einteilungen gewonnen?

pse_344.014
Eine Tatsache aber drängt sich auf: Es gibt wesenhafte pse_344.015
Unterschiede in der Art, sprachkünstlerisch zu außerdichterischen pse_344.016
Sachverhalten Stellung zu nehmen. Es ist etwas anderes, pse_344.017
ob ich mich über etwas Erlebtes in einem Lied ausdrücke, ob pse_344.018
ich einen Bericht gebe oder ob ich das Ereignis in einem Spiel pse_344.019
wiedergebe. Da sind schon Andeutungen dessen gegeben, was pse_344.020
man ganz allgemein als lyrisch, episch und dramatisch bezeichnet. pse_344.021
Aber das sind noch grobe Sonderungen. Wenn wir pse_344.022
nicht äußerlich sein oder einfach diktatorisch Feststellungen pse_344.023
treffen wollen, müssen wir tiefer schauen und umsichtig vorgehen.

pse_344.024

pse_344.025
Die Ursachen für die verwirrte Lage und die Uneinigkeit pse_344.026
in der Gattungsfrage sind verschieden. Eine sehr wichtige pse_344.027
ist die Tatsache, daß allen diesen Einteilungsversuchen verschiedene pse_344.028
Gesichtspunkte zugrunde gelegt werden. Man verquickt pse_344.029
menschliche Grundhaltungen mit theoretischen Forderungen, pse_344.030
bestimmten ästhetischen Sichten, geschichtlichen pse_344.031
Traditionen und Umbrüchen. Eine klare Überschau kann so pse_344.032
nie zustande kommen.

pse_344.001
I pse_344.002
DIE AUSGANGSPUNKTE
pse_344.003
Vorfragen
pse_344.004

Mit der Betrachtung der Dichtungsgattungen und -arten pse_344.005
betreten wir ein sehr bekanntes, aber sehr schwieriges Gebiet. pse_344.006
Die verschiedensten Fragen drängen sich auf. Soll man nach pse_344.007
Formen, Gattungen, Arten, nach Typen oder gar Urphänomenen pse_344.008
einteilen? Lassen sich alle Dichtungen klassifizieren, pse_344.009
oder gibt es Mischformen? Sind die reinen oder die Mischformen pse_344.010
die wertvolleren? Ist die Einteilung rein theoretisch pse_344.011
aus Einsichten in das Wesen der Dichtung vorzunehmen, oder pse_344.012
spielen geschichtliche Tatsachen auch eine Rolle? Endlich: Was pse_344.013
ist mit solchen Einteilungen gewonnen?

pse_344.014
Eine Tatsache aber drängt sich auf: Es gibt wesenhafte pse_344.015
Unterschiede in der Art, sprachkünstlerisch zu außerdichterischen pse_344.016
Sachverhalten Stellung zu nehmen. Es ist etwas anderes, pse_344.017
ob ich mich über etwas Erlebtes in einem Lied ausdrücke, ob pse_344.018
ich einen Bericht gebe oder ob ich das Ereignis in einem Spiel pse_344.019
wiedergebe. Da sind schon Andeutungen dessen gegeben, was pse_344.020
man ganz allgemein als lyrisch, episch und dramatisch bezeichnet. pse_344.021
Aber das sind noch grobe Sonderungen. Wenn wir pse_344.022
nicht äußerlich sein oder einfach diktatorisch Feststellungen pse_344.023
treffen wollen, müssen wir tiefer schauen und umsichtig vorgehen.

pse_344.024

pse_344.025
Die Ursachen für die verwirrte Lage und die Uneinigkeit pse_344.026
in der Gattungsfrage sind verschieden. Eine sehr wichtige pse_344.027
ist die Tatsache, daß allen diesen Einteilungsversuchen verschiedene pse_344.028
Gesichtspunkte zugrunde gelegt werden. Man verquickt pse_344.029
menschliche Grundhaltungen mit theoretischen Forderungen, pse_344.030
bestimmten ästhetischen Sichten, geschichtlichen pse_344.031
Traditionen und Umbrüchen. Eine klare Überschau kann so pse_344.032
nie zustande kommen.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0360" n="E344"/>
        <div n="2">
          <lb n="pse_344.001"/>
          <head> <hi rendition="#c">I <lb n="pse_344.002"/> <hi rendition="#g">DIE AUSGANGSPUNKTE</hi></hi> </head>
          <div n="3">
            <lb n="pse_344.003"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Vorfragen</hi> </hi> </head>
            <lb n="pse_344.004"/>
            <p><hi rendition="#in">M</hi>it der Betrachtung der Dichtungsgattungen und -arten <lb n="pse_344.005"/>
betreten wir ein sehr bekanntes, aber sehr schwieriges Gebiet. <lb n="pse_344.006"/>
Die verschiedensten Fragen drängen sich auf. Soll man nach <lb n="pse_344.007"/>
Formen, Gattungen, Arten, nach Typen oder gar Urphänomenen <lb n="pse_344.008"/>
einteilen? Lassen sich alle Dichtungen klassifizieren, <lb n="pse_344.009"/>
oder gibt es Mischformen? Sind die reinen oder die Mischformen <lb n="pse_344.010"/>
die wertvolleren? Ist die Einteilung rein theoretisch <lb n="pse_344.011"/>
aus Einsichten in das Wesen der Dichtung vorzunehmen, oder <lb n="pse_344.012"/>
spielen geschichtliche Tatsachen auch eine Rolle? Endlich: Was <lb n="pse_344.013"/>
ist mit solchen Einteilungen gewonnen?</p>
            <p><lb n="pse_344.014"/>
Eine Tatsache aber drängt sich auf: Es gibt wesenhafte <lb n="pse_344.015"/>
Unterschiede in der Art, sprachkünstlerisch zu außerdichterischen <lb n="pse_344.016"/>
Sachverhalten Stellung zu nehmen. Es ist etwas anderes, <lb n="pse_344.017"/>
ob ich mich über etwas Erlebtes in einem Lied ausdrücke, ob <lb n="pse_344.018"/>
ich einen Bericht gebe oder ob ich das Ereignis in einem Spiel <lb n="pse_344.019"/>
wiedergebe. Da sind schon Andeutungen dessen gegeben, was <lb n="pse_344.020"/>
man ganz allgemein als lyrisch, episch und dramatisch bezeichnet. <lb n="pse_344.021"/>
Aber das sind noch grobe Sonderungen. Wenn wir <lb n="pse_344.022"/>
nicht äußerlich sein oder einfach diktatorisch Feststellungen <lb n="pse_344.023"/>
treffen wollen, müssen wir tiefer schauen und umsichtig vorgehen.</p>
            <lb n="pse_344.024"/>
            <p><lb n="pse_344.025"/>
Die Ursachen für die verwirrte Lage und die Uneinigkeit <lb n="pse_344.026"/>
in der Gattungsfrage sind verschieden. Eine sehr wichtige <lb n="pse_344.027"/>
ist die Tatsache, daß allen diesen Einteilungsversuchen verschiedene <lb n="pse_344.028"/>
Gesichtspunkte zugrunde gelegt werden. Man verquickt <lb n="pse_344.029"/>
menschliche Grundhaltungen mit theoretischen Forderungen, <lb n="pse_344.030"/>
bestimmten ästhetischen Sichten, geschichtlichen <lb n="pse_344.031"/>
Traditionen und Umbrüchen. Eine klare Überschau kann so <lb n="pse_344.032"/>
nie zustande kommen.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E344/0360] pse_344.001 I pse_344.002 DIE AUSGANGSPUNKTE pse_344.003 Vorfragen pse_344.004 Mit der Betrachtung der Dichtungsgattungen und -arten pse_344.005 betreten wir ein sehr bekanntes, aber sehr schwieriges Gebiet. pse_344.006 Die verschiedensten Fragen drängen sich auf. Soll man nach pse_344.007 Formen, Gattungen, Arten, nach Typen oder gar Urphänomenen pse_344.008 einteilen? Lassen sich alle Dichtungen klassifizieren, pse_344.009 oder gibt es Mischformen? Sind die reinen oder die Mischformen pse_344.010 die wertvolleren? Ist die Einteilung rein theoretisch pse_344.011 aus Einsichten in das Wesen der Dichtung vorzunehmen, oder pse_344.012 spielen geschichtliche Tatsachen auch eine Rolle? Endlich: Was pse_344.013 ist mit solchen Einteilungen gewonnen? pse_344.014 Eine Tatsache aber drängt sich auf: Es gibt wesenhafte pse_344.015 Unterschiede in der Art, sprachkünstlerisch zu außerdichterischen pse_344.016 Sachverhalten Stellung zu nehmen. Es ist etwas anderes, pse_344.017 ob ich mich über etwas Erlebtes in einem Lied ausdrücke, ob pse_344.018 ich einen Bericht gebe oder ob ich das Ereignis in einem Spiel pse_344.019 wiedergebe. Da sind schon Andeutungen dessen gegeben, was pse_344.020 man ganz allgemein als lyrisch, episch und dramatisch bezeichnet. pse_344.021 Aber das sind noch grobe Sonderungen. Wenn wir pse_344.022 nicht äußerlich sein oder einfach diktatorisch Feststellungen pse_344.023 treffen wollen, müssen wir tiefer schauen und umsichtig vorgehen. pse_344.024 pse_344.025 Die Ursachen für die verwirrte Lage und die Uneinigkeit pse_344.026 in der Gattungsfrage sind verschieden. Eine sehr wichtige pse_344.027 ist die Tatsache, daß allen diesen Einteilungsversuchen verschiedene pse_344.028 Gesichtspunkte zugrunde gelegt werden. Man verquickt pse_344.029 menschliche Grundhaltungen mit theoretischen Forderungen, pse_344.030 bestimmten ästhetischen Sichten, geschichtlichen pse_344.031 Traditionen und Umbrüchen. Eine klare Überschau kann so pse_344.032 nie zustande kommen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/360
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/360>, abgerufen am 12.05.2024.