pse_331.001 Wert: sie geben uns vielleicht Maßstäbe des Wertens, pse_331.002 vor allem aber errichten sie Warntafeln, indem sie uns Irrtümer pse_331.003 des Wertens aufzeigen. Denn das Werten als theoretische pse_331.004 Formulierung aller Fragen, die mit dem Wert einer pse_331.005 Dichtung zusammenhängen, ist schwieriger und ausgesetzter pse_331.006 als jedes andere Urteilen. Man kann hier nicht den Satz pse_331.007 gelten lassen: wahr ist nur, was beweisbar ist. Übrigens gibt es pse_331.008 ja auch in "strengen" Wissenschaften wahre Sätze, die nicht pse_331.009 beweisbar sind: die Axiome, die schon aus den Begriffen einleuchten, pse_331.010 und Sätze der unmittelbaren inneren Erfahrung, pse_331.011 z. B.: ich habe jetzt eine Schmerzempfindung. Gerade diese pse_331.012 Art von Einsichten ist für uns hier wichtig. Die Feststellung pse_331.013 einer eigenen Werterfahrung ist über jeden Zweifel erhaben. pse_331.014 Ob wir allerdings dann richtig werten, ist eine andere Frage. pse_331.015 Auch ist zu beachten, daß die Art einer Erkenntnis von der pse_331.016 Art des zu erkennenden Gegenstandes abhängt. Ein Kunstwerk pse_331.017 und sein Wert können nie logisch bewiesen werden wie pse_331.018 ein Satz der Mathematik. Sein Wert ist im Augenblick einer pse_331.019 Werterfahrung im Gefühl erlebt. Auf dieses Werterleben pse_331.020 gründet sich das Werturteil. Die Wahrheit eines Werturteils pse_331.021 kann nicht bewiesen, sondern aus der inneren Erfahrung aufgewiesen pse_331.022 werden. Nicht logische Beweise helfen zum richtigen pse_331.023 Werterleben, da gibt es andere Wege; einen negativen: pse_331.024 man muß nicht zuständige Motivierungen abbauen. Eine pse_331.025 solche nicht zuständige Wertung wäre etwa die auf Grund pse_331.026 rein logischer Erwägungen zur Metaphysik im "Faust"; vor pse_331.027 allem aber auch Motivierungen aus politischen Erwägungen, pse_331.028 wie sie uns das 20. Jahrhundert in jeder Richtung beschert hat. pse_331.029 Endlich hat sich nun auch ergeben, daß etwa die Maßstäbe, pse_331.030 die wir an eine moderne Dichtung als Erlebnisausdruck des pse_331.031 Dichters legen, für sehr ausgedehnte Bereiche früherer Dichtungsgeschichte pse_331.032 nicht gelten, so für den Barock, den Minnesang, pse_331.033 ja teilweise noch für Schiller. Das heißt aber nicht, daß pse_331.034 in solchen Dichtungen, wie etwa bei Heinrich von Morungen, pse_331.035 Walther von der Vogelweide, Gryphius usw. nicht auch persönliches pse_331.036 Welterfahren und persönliches Leid mitwirken an pse_331.037 der künstlerischen Gestaltung. Und einen positiven Weg: das pse_331.038 Helfen und Auffordern zum Versenken in die Dichtung.
pse_331.001 Wert: sie geben uns vielleicht Maßstäbe des Wertens, pse_331.002 vor allem aber errichten sie Warntafeln, indem sie uns Irrtümer pse_331.003 des Wertens aufzeigen. Denn das Werten als theoretische pse_331.004 Formulierung aller Fragen, die mit dem Wert einer pse_331.005 Dichtung zusammenhängen, ist schwieriger und ausgesetzter pse_331.006 als jedes andere Urteilen. Man kann hier nicht den Satz pse_331.007 gelten lassen: wahr ist nur, was beweisbar ist. Übrigens gibt es pse_331.008 ja auch in »strengen« Wissenschaften wahre Sätze, die nicht pse_331.009 beweisbar sind: die Axiome, die schon aus den Begriffen einleuchten, pse_331.010 und Sätze der unmittelbaren inneren Erfahrung, pse_331.011 z. B.: ich habe jetzt eine Schmerzempfindung. Gerade diese pse_331.012 Art von Einsichten ist für uns hier wichtig. Die Feststellung pse_331.013 einer eigenen Werterfahrung ist über jeden Zweifel erhaben. pse_331.014 Ob wir allerdings dann richtig werten, ist eine andere Frage. pse_331.015 Auch ist zu beachten, daß die Art einer Erkenntnis von der pse_331.016 Art des zu erkennenden Gegenstandes abhängt. Ein Kunstwerk pse_331.017 und sein Wert können nie logisch bewiesen werden wie pse_331.018 ein Satz der Mathematik. Sein Wert ist im Augenblick einer pse_331.019 Werterfahrung im Gefühl erlebt. Auf dieses Werterleben pse_331.020 gründet sich das Werturteil. Die Wahrheit eines Werturteils pse_331.021 kann nicht bewiesen, sondern aus der inneren Erfahrung aufgewiesen pse_331.022 werden. Nicht logische Beweise helfen zum richtigen pse_331.023 Werterleben, da gibt es andere Wege; einen negativen: pse_331.024 man muß nicht zuständige Motivierungen abbauen. Eine pse_331.025 solche nicht zuständige Wertung wäre etwa die auf Grund pse_331.026 rein logischer Erwägungen zur Metaphysik im »Faust«; vor pse_331.027 allem aber auch Motivierungen aus politischen Erwägungen, pse_331.028 wie sie uns das 20. Jahrhundert in jeder Richtung beschert hat. pse_331.029 Endlich hat sich nun auch ergeben, daß etwa die Maßstäbe, pse_331.030 die wir an eine moderne Dichtung als Erlebnisausdruck des pse_331.031 Dichters legen, für sehr ausgedehnte Bereiche früherer Dichtungsgeschichte pse_331.032 nicht gelten, so für den Barock, den Minnesang, pse_331.033 ja teilweise noch für Schiller. Das heißt aber nicht, daß pse_331.034 in solchen Dichtungen, wie etwa bei Heinrich von Morungen, pse_331.035 Walther von der Vogelweide, Gryphius usw. nicht auch persönliches pse_331.036 Welterfahren und persönliches Leid mitwirken an pse_331.037 der künstlerischen Gestaltung. Und einen positiven Weg: das pse_331.038 Helfen und Auffordern zum Versenken in die Dichtung.
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vor allem aber errichten sie Warntafeln, indem sie uns Irrtümer pse_331.003
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Dichtung zusammenhängen, ist schwieriger und ausgesetzter pse_331.006
als jedes andere Urteilen. Man kann hier nicht den Satz pse_331.007
gelten lassen: wahr ist nur, was beweisbar ist. Übrigens gibt es pse_331.008
ja auch in »strengen« Wissenschaften wahre Sätze, die nicht pse_331.009
beweisbar sind: die Axiome, die schon aus den Begriffen einleuchten, pse_331.010
und Sätze der unmittelbaren inneren Erfahrung, pse_331.011
z. B.: ich habe jetzt eine Schmerzempfindung. Gerade diese pse_331.012
Art von Einsichten ist für uns hier wichtig. Die Feststellung pse_331.013
einer eigenen Werterfahrung ist über jeden Zweifel erhaben. pse_331.014
Ob wir allerdings dann richtig werten, ist eine andere Frage. pse_331.015
Auch ist zu beachten, daß die Art einer Erkenntnis von der pse_331.016
Art des zu erkennenden Gegenstandes abhängt. Ein Kunstwerk pse_331.017
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kann nicht bewiesen, sondern aus der inneren Erfahrung aufgewiesen pse_331.022
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wie sie uns das 20. Jahrhundert in jeder Richtung beschert hat. pse_331.029
Endlich hat sich nun auch ergeben, daß etwa die Maßstäbe, pse_331.030
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Dichters legen, für sehr ausgedehnte Bereiche früherer Dichtungsgeschichte pse_331.032
nicht gelten, so für den Barock, den Minnesang, pse_331.033
ja teilweise noch für Schiller. Das heißt aber nicht, daß pse_331.034
in solchen Dichtungen, wie etwa bei Heinrich von Morungen, pse_331.035
Walther von der Vogelweide, Gryphius usw. nicht auch persönliches pse_331.036
Welterfahren und persönliches Leid mitwirken an pse_331.037
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Helfen und Auffordern zum Versenken in die Dichtung.
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/347>, abgerufen am 25.11.2024.
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