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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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innerlich vorgestellten Lautung, und umgekehrt wirkt diese pse_322.002
als Lautung und nicht bloß als Schall nur, indem sie einen pse_322.003
Sinn hat. Die Dichtung baut also schon auf einem sehr verwickelten pse_322.004
geistigen Gebilde auf. Diese sprachliche Gegebenheit pse_322.005
führt aber in der Dichtung sofort in einen weiteren Bereich, pse_322.006
in den der Sprachkunst. Die Sprache entfaltet in einer pse_322.007
Dichtung ihre wesenhaften Kräfte, dient nicht bloß als Instrument pse_322.008
der Verständigung, sondern schafft durch ihre pse_322.009
Werte eine eigene Welt. Das gelingt durch die Vertiefung pse_322.010
der sprachlichen Struktur in den Stilkräften, die das Sprachgebilde pse_322.011
aus einem Sprachwerk zu einem Sprachkunstwerk pse_322.012
machen. Von dieser Grundlage aus bauen sich die größeren pse_322.013
Zusammenhänge auf: der Aufbau der Dichtung, der selber pse_322.014
wieder in die Tiefe schauen läßt. Stifters "Nachsommer" ist pse_322.015
in mehrfacher Hinsicht von der Mitte her angelegt: Das pse_322.016
mittlere Kapitel bringt die höchste Sinngebung und führt pse_322.017
vom Sinngehalt des ersten in den des zweiten Teils. Dieser pse_322.018
Augenblick ist auch die zeitliche Mitte des ganzen Ablaufs. pse_322.019
Zugleich bildet das Rosenhaus die zuerst gesuchte, dann erlebte pse_322.020
Mitte des Bildungsweges Heinrichs: von hier aus greift pse_322.021
er in die Welt in immer weiteren Griffen, hierher kehrt er pse_322.022
immer wieder zurück. Man könnte dartun, daß mit diesem pse_322.023
Bau schon zugleich ein Menschenbild gestaltet wird, der pse_322.024
Mensch der Innerlichkeit, der aus dem tiefsten Inneren bestimmt pse_322.025
ist. In diesem Bau also wird ein Tieferes unmittelbar pse_322.026
erlebbar. Ferner die Personen, die ein Dichter in einer epischen pse_322.027
und dramatischen Dichtung schafft. Jede dieser Personen, pse_322.028
vor allem aber die Hauptgestalten, sind nicht nur pse_322.029
Figuren für sich, sondern führen in die Tiefe. Adrian Leverkühn pse_322.030
ist nicht bloß die Zentralgestalt von Th. Manns Roman, pse_322.031
sondern langsam erfassen wir, daß er zu einem Symbol wird, pse_322.032
daß in ihm Wesen und Schicksal des deutschen Volkes greifbar pse_322.033
wird, wie es der Dichter sieht. In der Gestalt Kaiser pse_322.034
Rudolfs II. in Grillparzers "Bruderzwist in Habsburg" wird pse_322.035
nicht nur Grillparzers Wesen selber lebendig, ist nicht nur die pse_322.036
Zentralgestalt des Dramas da, sondern wir erleben an seinem pse_322.037
Verhältnis zu seiner vielfach aufgesplitterten Mitwelt etwas pse_322.038
von der Struktur und Tragik des Geschichtlichen und ihn selbst

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innerlich vorgestellten Lautung, und umgekehrt wirkt diese pse_322.002
als Lautung und nicht bloß als Schall nur, indem sie einen pse_322.003
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Figuren für sich, sondern führen in die Tiefe. Adrian Leverkühn pse_322.030
ist nicht bloß die Zentralgestalt von Th. Manns Roman, pse_322.031
sondern langsam erfassen wir, daß er zu einem Symbol wird, pse_322.032
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Rudolfs II. in Grillparzers »Bruderzwist in Habsburg« wird pse_322.035
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Zentralgestalt des Dramas da, sondern wir erleben an seinem pse_322.037
Verhältnis zu seiner vielfach aufgesplitterten Mitwelt etwas pse_322.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/338>, abgerufen am 14.05.2024.