Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_307.001
außersprachlicher Wirklichkeit und persönlicher Einfühlung, pse_307.002
persönlich wirkender Fülle. Daher entsteht das Verschwimmen, pse_307.003
die Kunst der unmerklichen Übergänge, der pse_307.004
Schattierungen, die nur mehr in Gegensätzen oder in einer pse_307.005
Fülle von Eindrücken sprachlich umgriffen werden können. pse_307.006
In dieser verschwebenden Fülle liegt das Wesen nicht einer pse_307.007
Welt, sondern einer ganz subjektiven Weltbegegnung. Aber pse_307.008
wieder wird hier deutlich, wie solche Gestaltungsformen aus pse_307.009
der Grundhaltung des Gestalters immer neue sprachliche pse_307.010
Möglichkeiten herausformen und ausbilden.

pse_307.011
Was wir als klassische Gestaltungsform und ihre Gegenformen pse_307.012
bezeichnen, deckt sich in vielem mit Zügen, die wir jetzt pse_307.013
herausgearbeitet haben. Denn es handelt sich jetzt um andere pse_307.014
Sichtweisen auf die dichterischen Formen als früher. War bei pse_307.015
der Frage nach dem Unterschied von Idealismus und Realismus pse_307.016
vor allem der Ausschnitt aus der Wirklichkeit und das pse_307.017
dichterische Verhältnis zu ihm der Ausgangspunkt, so rückt pse_307.018
jetzt mehr der Blick auf künstlerische Grundgesetze und ihre pse_307.019
Allgemeingültigkeit in den Vordergrund. Vor allem sei pse_307.020
nochmals betont: aus dem Wesen des Klassischen ergibt pse_307.021
sich, daß man kaum mit einem Gegenbild auskommt, wenn pse_307.022
man es nicht rein negativ als das Gegenklassische oder Nichtklassische pse_307.023
bezeichnen will.

pse_307.024
Der Ausdruck "klassisch" hat eine lange Geschichte. Lat. pse_307.025
classicus bedeutet zunächst einen Bürger der höchsten, für pse_307.026
die Erhaltung der Flotte zuständigen Steuerklasse. Schon im pse_307.027
späten Rom gewinnt daraus das Wort die Bedeutung "hervorragend", pse_307.028
"vorbildlich". So entsteht dann die Bildung pse_307.029
"autores classici": vorbildliche Schriftsteller. Endlich entsteht pse_307.030
das Wort Klassik. Es ist selbst heute durchaus nicht einheitlich pse_307.031
gebraucht. Es hat einen geschichtlich bedingten Sinn und pse_307.032
meint zunächst alle Dichtung, die eine höchste Entfaltung pse_307.033
schöpferischer Kräfte einer Nation in Auseinandersetzung mit pse_307.034
und Einverleibung von antiker Kultur darstellt. Fällt dieser pse_307.035
Bezug zur antiken Kultur fort, dann bleibt das Wort für jede pse_307.036
Höchstentfaltung schöpferischer Kräfte eines Volkes, endlich pse_307.037
versteht man darunter hervorragende Schriftsteller, auch pse_307.038
solche, die, wie man einmal witzig bemerkte, die Schutzfrist

pse_307.001
außersprachlicher Wirklichkeit und persönlicher Einfühlung, pse_307.002
persönlich wirkender Fülle. Daher entsteht das Verschwimmen, pse_307.003
die Kunst der unmerklichen Übergänge, der pse_307.004
Schattierungen, die nur mehr in Gegensätzen oder in einer pse_307.005
Fülle von Eindrücken sprachlich umgriffen werden können. pse_307.006
In dieser verschwebenden Fülle liegt das Wesen nicht einer pse_307.007
Welt, sondern einer ganz subjektiven Weltbegegnung. Aber pse_307.008
wieder wird hier deutlich, wie solche Gestaltungsformen aus pse_307.009
der Grundhaltung des Gestalters immer neue sprachliche pse_307.010
Möglichkeiten herausformen und ausbilden.

pse_307.011
Was wir als klassische Gestaltungsform und ihre Gegenformen pse_307.012
bezeichnen, deckt sich in vielem mit Zügen, die wir jetzt pse_307.013
herausgearbeitet haben. Denn es handelt sich jetzt um andere pse_307.014
Sichtweisen auf die dichterischen Formen als früher. War bei pse_307.015
der Frage nach dem Unterschied von Idealismus und Realismus pse_307.016
vor allem der Ausschnitt aus der Wirklichkeit und das pse_307.017
dichterische Verhältnis zu ihm der Ausgangspunkt, so rückt pse_307.018
jetzt mehr der Blick auf künstlerische Grundgesetze und ihre pse_307.019
Allgemeingültigkeit in den Vordergrund. Vor allem sei pse_307.020
nochmals betont: aus dem Wesen des Klassischen ergibt pse_307.021
sich, daß man kaum mit einem Gegenbild auskommt, wenn pse_307.022
man es nicht rein negativ als das Gegenklassische oder Nichtklassische pse_307.023
bezeichnen will.

pse_307.024
Der Ausdruck »klassisch« hat eine lange Geschichte. Lat. pse_307.025
classicus bedeutet zunächst einen Bürger der höchsten, für pse_307.026
die Erhaltung der Flotte zuständigen Steuerklasse. Schon im pse_307.027
späten Rom gewinnt daraus das Wort die Bedeutung »hervorragend«, pse_307.028
»vorbildlich«. So entsteht dann die Bildung pse_307.029
»autores classici«: vorbildliche Schriftsteller. Endlich entsteht pse_307.030
das Wort Klassik. Es ist selbst heute durchaus nicht einheitlich pse_307.031
gebraucht. Es hat einen geschichtlich bedingten Sinn und pse_307.032
meint zunächst alle Dichtung, die eine höchste Entfaltung pse_307.033
schöpferischer Kräfte einer Nation in Auseinandersetzung mit pse_307.034
und Einverleibung von antiker Kultur darstellt. Fällt dieser pse_307.035
Bezug zur antiken Kultur fort, dann bleibt das Wort für jede pse_307.036
Höchstentfaltung schöpferischer Kräfte eines Volkes, endlich pse_307.037
versteht man darunter hervorragende Schriftsteller, auch pse_307.038
solche, die, wie man einmal witzig bemerkte, die Schutzfrist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0323" n="307"/><lb n="pse_307.001"/>
außersprachlicher Wirklichkeit und persönlicher Einfühlung, <lb n="pse_307.002"/>
persönlich wirkender Fülle. Daher entsteht das Verschwimmen, <lb n="pse_307.003"/>
die Kunst der unmerklichen Übergänge, der <lb n="pse_307.004"/>
Schattierungen, die nur mehr in Gegensätzen oder in einer <lb n="pse_307.005"/>
Fülle von Eindrücken sprachlich umgriffen werden können. <lb n="pse_307.006"/>
In dieser verschwebenden Fülle liegt das Wesen nicht einer <lb n="pse_307.007"/>
Welt, sondern einer ganz subjektiven Weltbegegnung. Aber <lb n="pse_307.008"/>
wieder wird hier deutlich, wie solche Gestaltungsformen aus <lb n="pse_307.009"/>
der Grundhaltung des Gestalters immer neue sprachliche <lb n="pse_307.010"/>
Möglichkeiten herausformen und ausbilden.</p>
            <p><lb n="pse_307.011"/>
Was wir als <hi rendition="#i">klassische Gestaltungsform und ihre Gegenformen</hi> <lb n="pse_307.012"/>
bezeichnen, deckt sich in vielem mit Zügen, die wir jetzt <lb n="pse_307.013"/>
herausgearbeitet haben. Denn es handelt sich jetzt um andere <lb n="pse_307.014"/>
Sichtweisen auf die dichterischen Formen als früher. War bei <lb n="pse_307.015"/>
der Frage nach dem Unterschied von Idealismus und Realismus <lb n="pse_307.016"/>
vor allem der Ausschnitt aus der Wirklichkeit und das <lb n="pse_307.017"/>
dichterische Verhältnis zu ihm der Ausgangspunkt, so rückt <lb n="pse_307.018"/>
jetzt mehr der Blick auf künstlerische Grundgesetze und ihre <lb n="pse_307.019"/>
Allgemeingültigkeit in den Vordergrund. Vor allem sei <lb n="pse_307.020"/>
nochmals betont: aus dem Wesen des Klassischen ergibt <lb n="pse_307.021"/>
sich, daß man kaum mit einem Gegenbild auskommt, wenn <lb n="pse_307.022"/>
man es nicht rein negativ als das Gegenklassische oder Nichtklassische <lb n="pse_307.023"/>
bezeichnen will.</p>
            <p><lb n="pse_307.024"/>
Der Ausdruck »<hi rendition="#i">klassisch</hi>« hat eine lange Geschichte. Lat. <lb n="pse_307.025"/>
classicus bedeutet zunächst einen Bürger der höchsten, für <lb n="pse_307.026"/>
die Erhaltung der Flotte zuständigen Steuerklasse. Schon im <lb n="pse_307.027"/>
späten Rom gewinnt daraus das Wort die Bedeutung »hervorragend«, <lb n="pse_307.028"/>
»vorbildlich«. So entsteht dann die Bildung <lb n="pse_307.029"/>
»autores classici«: vorbildliche Schriftsteller. Endlich entsteht <lb n="pse_307.030"/>
das Wort Klassik. Es ist selbst heute durchaus nicht einheitlich <lb n="pse_307.031"/>
gebraucht. Es hat einen geschichtlich bedingten Sinn und <lb n="pse_307.032"/>
meint zunächst alle Dichtung, die eine höchste Entfaltung <lb n="pse_307.033"/>
schöpferischer Kräfte einer Nation in Auseinandersetzung mit <lb n="pse_307.034"/>
und Einverleibung von antiker Kultur darstellt. Fällt dieser <lb n="pse_307.035"/>
Bezug zur antiken Kultur fort, dann bleibt das Wort für jede <lb n="pse_307.036"/>
Höchstentfaltung schöpferischer Kräfte eines Volkes, endlich <lb n="pse_307.037"/>
versteht man darunter hervorragende Schriftsteller, auch <lb n="pse_307.038"/>
solche, die, wie man einmal witzig bemerkte, die Schutzfrist
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0323] pse_307.001 außersprachlicher Wirklichkeit und persönlicher Einfühlung, pse_307.002 persönlich wirkender Fülle. Daher entsteht das Verschwimmen, pse_307.003 die Kunst der unmerklichen Übergänge, der pse_307.004 Schattierungen, die nur mehr in Gegensätzen oder in einer pse_307.005 Fülle von Eindrücken sprachlich umgriffen werden können. pse_307.006 In dieser verschwebenden Fülle liegt das Wesen nicht einer pse_307.007 Welt, sondern einer ganz subjektiven Weltbegegnung. Aber pse_307.008 wieder wird hier deutlich, wie solche Gestaltungsformen aus pse_307.009 der Grundhaltung des Gestalters immer neue sprachliche pse_307.010 Möglichkeiten herausformen und ausbilden. pse_307.011 Was wir als klassische Gestaltungsform und ihre Gegenformen pse_307.012 bezeichnen, deckt sich in vielem mit Zügen, die wir jetzt pse_307.013 herausgearbeitet haben. Denn es handelt sich jetzt um andere pse_307.014 Sichtweisen auf die dichterischen Formen als früher. War bei pse_307.015 der Frage nach dem Unterschied von Idealismus und Realismus pse_307.016 vor allem der Ausschnitt aus der Wirklichkeit und das pse_307.017 dichterische Verhältnis zu ihm der Ausgangspunkt, so rückt pse_307.018 jetzt mehr der Blick auf künstlerische Grundgesetze und ihre pse_307.019 Allgemeingültigkeit in den Vordergrund. Vor allem sei pse_307.020 nochmals betont: aus dem Wesen des Klassischen ergibt pse_307.021 sich, daß man kaum mit einem Gegenbild auskommt, wenn pse_307.022 man es nicht rein negativ als das Gegenklassische oder Nichtklassische pse_307.023 bezeichnen will. pse_307.024 Der Ausdruck »klassisch« hat eine lange Geschichte. Lat. pse_307.025 classicus bedeutet zunächst einen Bürger der höchsten, für pse_307.026 die Erhaltung der Flotte zuständigen Steuerklasse. Schon im pse_307.027 späten Rom gewinnt daraus das Wort die Bedeutung »hervorragend«, pse_307.028 »vorbildlich«. So entsteht dann die Bildung pse_307.029 »autores classici«: vorbildliche Schriftsteller. Endlich entsteht pse_307.030 das Wort Klassik. Es ist selbst heute durchaus nicht einheitlich pse_307.031 gebraucht. Es hat einen geschichtlich bedingten Sinn und pse_307.032 meint zunächst alle Dichtung, die eine höchste Entfaltung pse_307.033 schöpferischer Kräfte einer Nation in Auseinandersetzung mit pse_307.034 und Einverleibung von antiker Kultur darstellt. Fällt dieser pse_307.035 Bezug zur antiken Kultur fort, dann bleibt das Wort für jede pse_307.036 Höchstentfaltung schöpferischer Kräfte eines Volkes, endlich pse_307.037 versteht man darunter hervorragende Schriftsteller, auch pse_307.038 solche, die, wie man einmal witzig bemerkte, die Schutzfrist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/323
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/323>, abgerufen am 22.11.2024.