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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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er musikalische und plastische Bauweise unterschied. Auch pse_262.002
die Bemühungen Wölfflins und derer, die seine bekannten pse_262.003
fünf Paare, die er an der Kunst der Renaissance und des Barock pse_262.004
entwickelte, zusammenfaßten, weiterbildeten oder auf die pse_262.005
Dichtung anwendeten (Walzel), kreisen um diese Möglichkeiten. pse_262.006
In allen Dichtungsgattungen lassen sie sich feststellen. pse_262.007
Neben der streng gebauten Novelle, wo eines ins andere pse_262.008
greift, stehen Erzählweisen, die die einzelnen Glieder nicht pse_262.009
binden, sondern frei aneinanderreihen. Beim Drama können pse_262.010
wir am besten Goethes "Götz" neben seinen "Clavigo" stellen, pse_262.011
um den Unterschied zu erkennen. Auch bei der Lyrik können pse_262.012
wir diese Unterschiede sehen: Volksballaden reihen oft pse_262.013
sprunghaft, ohne betonten Zusammenhang, Strophe an pse_262.014
Strophe. Andere lyrische Kunstformen verlangen strengste pse_262.015
Fügung, so schon die Formen des Minnesangs, vor allem pse_262.016
aber die seit der Renaissance ausgebildeten, am stärksten das pse_262.017
Sonett, die strengste lyrische Form.

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In Novellen und im streng gebauten klassischen Drama pse_262.019
sind die einzelnen Glieder miteinander verflochten: Rückgriffe pse_262.020
und Vorausdeutungen wirken wie Verstrebungen, dazu pse_262.021
noch die Wiederholung bestimmter Glieder. So entsteht ein pse_262.022
kunstvolles Gefüge, das im Ansatz schon in den kunstvollen pse_262.023
und von den damaligen Hörern durchaus aufgefaßten Reimverschlingungen pse_262.024
des Minnesangs zu erkennen ist. Ein Meisterwerk pse_262.025
mannigfachster Verschlingung ist die Darstellung Züs pse_262.026
Bünzlins in G. Kellers "Drei gerechten Kammachern", Fortschreiten pse_262.027
von einem zum anderen verbindet sich mit dem pse_262.028
Streben nach mannigfachster Abwechslung. Es wechseln die pse_262.029
Gegenstände mit den Menschen, Schilderung des Äußeren pse_262.030
mit dem Inneren, manche Glieder sind dreiteilig. So entsteht pse_262.031
ein kunstvolles Gebilde, und die Bauweise des chinesischen pse_262.032
Tempels am Schluß ist wie ein Vexierbild dieser Anlage. pse_262.033
Ganz anders sieht die Bindung aus, wenn einfach ein Glied pse_262.034
ans andere gereiht wird, ob sie nun eng verbunden sind, wie pse_262.035
etwa in der Erzählweise Kafkas, oder sprunghaft eine Szene pse_262.036
an die andere gesetzt ist wie in der Ballade.

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Diese möglichen Arten der Bindung geben ein Grundgerüst, pse_262.038
innerhalb dessen erst sich die kunstvollen Bindungen

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er musikalische und plastische Bauweise unterschied. Auch pse_262.002
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Bünzlins in G. Kellers »Drei gerechten Kammachern«, Fortschreiten pse_262.027
von einem zum anderen verbindet sich mit dem pse_262.028
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[262/0278] pse_262.001 er musikalische und plastische Bauweise unterschied. Auch pse_262.002 die Bemühungen Wölfflins und derer, die seine bekannten pse_262.003 fünf Paare, die er an der Kunst der Renaissance und des Barock pse_262.004 entwickelte, zusammenfaßten, weiterbildeten oder auf die pse_262.005 Dichtung anwendeten (Walzel), kreisen um diese Möglichkeiten. pse_262.006 In allen Dichtungsgattungen lassen sie sich feststellen. pse_262.007 Neben der streng gebauten Novelle, wo eines ins andere pse_262.008 greift, stehen Erzählweisen, die die einzelnen Glieder nicht pse_262.009 binden, sondern frei aneinanderreihen. Beim Drama können pse_262.010 wir am besten Goethes »Götz« neben seinen »Clavigo« stellen, pse_262.011 um den Unterschied zu erkennen. Auch bei der Lyrik können pse_262.012 wir diese Unterschiede sehen: Volksballaden reihen oft pse_262.013 sprunghaft, ohne betonten Zusammenhang, Strophe an pse_262.014 Strophe. Andere lyrische Kunstformen verlangen strengste pse_262.015 Fügung, so schon die Formen des Minnesangs, vor allem pse_262.016 aber die seit der Renaissance ausgebildeten, am stärksten das pse_262.017 Sonett, die strengste lyrische Form. pse_262.018 In Novellen und im streng gebauten klassischen Drama pse_262.019 sind die einzelnen Glieder miteinander verflochten: Rückgriffe pse_262.020 und Vorausdeutungen wirken wie Verstrebungen, dazu pse_262.021 noch die Wiederholung bestimmter Glieder. So entsteht ein pse_262.022 kunstvolles Gefüge, das im Ansatz schon in den kunstvollen pse_262.023 und von den damaligen Hörern durchaus aufgefaßten Reimverschlingungen pse_262.024 des Minnesangs zu erkennen ist. Ein Meisterwerk pse_262.025 mannigfachster Verschlingung ist die Darstellung Züs pse_262.026 Bünzlins in G. Kellers »Drei gerechten Kammachern«, Fortschreiten pse_262.027 von einem zum anderen verbindet sich mit dem pse_262.028 Streben nach mannigfachster Abwechslung. Es wechseln die pse_262.029 Gegenstände mit den Menschen, Schilderung des Äußeren pse_262.030 mit dem Inneren, manche Glieder sind dreiteilig. So entsteht pse_262.031 ein kunstvolles Gebilde, und die Bauweise des chinesischen pse_262.032 Tempels am Schluß ist wie ein Vexierbild dieser Anlage. pse_262.033 Ganz anders sieht die Bindung aus, wenn einfach ein Glied pse_262.034 ans andere gereiht wird, ob sie nun eng verbunden sind, wie pse_262.035 etwa in der Erzählweise Kafkas, oder sprunghaft eine Szene pse_262.036 an die andere gesetzt ist wie in der Ballade. pse_262.037 Diese möglichen Arten der Bindung geben ein Grundgerüst, pse_262.038 innerhalb dessen erst sich die kunstvollen Bindungen

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/278>, abgerufen am 25.11.2024.