Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_257.001
Eine davon liegt in der Tatsache, daß jede Dichtung das Werk pse_257.002
eines Schöpfers ist. Die künstlerische Persönlichkeit eines pse_257.003
Dichters, also die gesamten Züge, die ihn als Künstler kennzeichnen, pse_257.004
wirkt am Aufbau der Werke mit. Grundlegendes pse_257.005
unterscheidet den Bau der Dramen Schillers, Kleists und Grillparzers. pse_257.006
Schillers Dramen sind durch die Zielstrebigkeit der pse_257.007
Anlage mit den deutlichen Steigerungen und Höhepunkten pse_257.008
am Ende von Akten gekennzeichnet; die von Kleist sind pse_257.009
bestimmt durch sein Menschenbild, durch die Spannungen pse_257.010
zwischen Innerem und Außenwelt, von Innigkeit und Gewalt, pse_257.011
die ihnen oft eine Art dreisätzigen Bau geben; bei Grillparzers pse_257.012
Dramen fällt die häufige Rahmung auf, ferner das pse_257.013
Stocken der Handlung gerade in der Mitte, die äußerliche pse_257.014
Erregtheit der Handlungsführung im vierten Akt. Selbstverständlich pse_257.015
sind das, so ausgesprochen, nur grobe Bestimmungen. pse_257.016
Aber es könnte gezeigt werden, wie da Grundzüge des pse_257.017
menschlichen Wesens dieser Dichter irgendwie aufleuchten. pse_257.018
Auch die Zeitbedingtheit des dichterischen Schaffens spielt pse_257.019
herein. Wir erkennen heute immer mehr, daß mittelalterliche pse_257.020
Dichtung bis in Einzelheiten nach bestimmten Zahlenverhältnissen pse_257.021
gebaut ist, während solche Baugrundsätze heute pse_257.022
selten mehr vorkommen. Diese Unterschiede führen uns pse_257.023
darauf, daß das Weltbild, in dem der Dichter lebt oder das er pse_257.024
selber geformt hat, eine ebensolche Rolle als Aufbaukraft pse_257.025
spielt. Die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse sind Ausdruck pse_257.026
mittelalterlichen Weltbildes. Auch weiß man heute, daß man pse_257.027
den Barockroman nicht mit Etiketten charakterisieren kann, pse_257.028
die aus der Entwicklung des Individualromans seit der Aufklärung pse_257.029
verständlich sind. Man verkennt die Struktur des pse_257.030
barocken, aber auch vielfach die des modernen Romans, pse_257.031
wenn man ihn als Entwicklungsroman sieht. Das Welt- und pse_257.032
Lebensbild, das in einer Dichtung lebendige Gestalt wird, pse_257.033
prägt sich auch im Aufbau aus oder umgekehrt, bestimmt den pse_257.034
Aufbau bis in die Einzelheiten.

pse_257.035
Eine weitere Aufbaukraft ist die dichterische Sprache. Die pse_257.036
Anlage einer Dichtung wie jedes Sprachwerks ist in der zeitlichen pse_257.037
Struktur der Sprache begründet. Jede sprachliche Aussage pse_257.038
verläuft notwendig zeitlich. Damit ist zunächst ein bestimmter

pse_257.001
Eine davon liegt in der Tatsache, daß jede Dichtung das Werk pse_257.002
eines Schöpfers ist. Die künstlerische Persönlichkeit eines pse_257.003
Dichters, also die gesamten Züge, die ihn als Künstler kennzeichnen, pse_257.004
wirkt am Aufbau der Werke mit. Grundlegendes pse_257.005
unterscheidet den Bau der Dramen Schillers, Kleists und Grillparzers. pse_257.006
Schillers Dramen sind durch die Zielstrebigkeit der pse_257.007
Anlage mit den deutlichen Steigerungen und Höhepunkten pse_257.008
am Ende von Akten gekennzeichnet; die von Kleist sind pse_257.009
bestimmt durch sein Menschenbild, durch die Spannungen pse_257.010
zwischen Innerem und Außenwelt, von Innigkeit und Gewalt, pse_257.011
die ihnen oft eine Art dreisätzigen Bau geben; bei Grillparzers pse_257.012
Dramen fällt die häufige Rahmung auf, ferner das pse_257.013
Stocken der Handlung gerade in der Mitte, die äußerliche pse_257.014
Erregtheit der Handlungsführung im vierten Akt. Selbstverständlich pse_257.015
sind das, so ausgesprochen, nur grobe Bestimmungen. pse_257.016
Aber es könnte gezeigt werden, wie da Grundzüge des pse_257.017
menschlichen Wesens dieser Dichter irgendwie aufleuchten. pse_257.018
Auch die Zeitbedingtheit des dichterischen Schaffens spielt pse_257.019
herein. Wir erkennen heute immer mehr, daß mittelalterliche pse_257.020
Dichtung bis in Einzelheiten nach bestimmten Zahlenverhältnissen pse_257.021
gebaut ist, während solche Baugrundsätze heute pse_257.022
selten mehr vorkommen. Diese Unterschiede führen uns pse_257.023
darauf, daß das Weltbild, in dem der Dichter lebt oder das er pse_257.024
selber geformt hat, eine ebensolche Rolle als Aufbaukraft pse_257.025
spielt. Die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse sind Ausdruck pse_257.026
mittelalterlichen Weltbildes. Auch weiß man heute, daß man pse_257.027
den Barockroman nicht mit Etiketten charakterisieren kann, pse_257.028
die aus der Entwicklung des Individualromans seit der Aufklärung pse_257.029
verständlich sind. Man verkennt die Struktur des pse_257.030
barocken, aber auch vielfach die des modernen Romans, pse_257.031
wenn man ihn als Entwicklungsroman sieht. Das Welt- und pse_257.032
Lebensbild, das in einer Dichtung lebendige Gestalt wird, pse_257.033
prägt sich auch im Aufbau aus oder umgekehrt, bestimmt den pse_257.034
Aufbau bis in die Einzelheiten.

pse_257.035
Eine weitere Aufbaukraft ist die dichterische Sprache. Die pse_257.036
Anlage einer Dichtung wie jedes Sprachwerks ist in der zeitlichen pse_257.037
Struktur der Sprache begründet. Jede sprachliche Aussage pse_257.038
verläuft notwendig zeitlich. Damit ist zunächst ein bestimmter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0273" n="257"/><lb n="pse_257.001"/>
Eine davon liegt in der Tatsache, daß jede Dichtung das Werk <lb n="pse_257.002"/>
eines Schöpfers ist. Die künstlerische Persönlichkeit eines <lb n="pse_257.003"/>
Dichters, also die gesamten Züge, die ihn als Künstler kennzeichnen, <lb n="pse_257.004"/>
wirkt am Aufbau der Werke mit. Grundlegendes <lb n="pse_257.005"/>
unterscheidet den Bau der Dramen Schillers, Kleists und Grillparzers. <lb n="pse_257.006"/>
Schillers Dramen sind durch die Zielstrebigkeit der <lb n="pse_257.007"/>
Anlage mit den deutlichen Steigerungen und Höhepunkten <lb n="pse_257.008"/>
am Ende von Akten gekennzeichnet; die von Kleist sind <lb n="pse_257.009"/>
bestimmt durch sein Menschenbild, durch die Spannungen <lb n="pse_257.010"/>
zwischen Innerem und Außenwelt, von Innigkeit und Gewalt, <lb n="pse_257.011"/>
die ihnen oft eine Art dreisätzigen Bau geben; bei Grillparzers <lb n="pse_257.012"/>
Dramen fällt die häufige Rahmung auf, ferner das <lb n="pse_257.013"/>
Stocken der Handlung gerade in der Mitte, die äußerliche <lb n="pse_257.014"/>
Erregtheit der Handlungsführung im vierten Akt. Selbstverständlich <lb n="pse_257.015"/>
sind das, so ausgesprochen, nur grobe Bestimmungen. <lb n="pse_257.016"/>
Aber es könnte gezeigt werden, wie da Grundzüge des <lb n="pse_257.017"/>
menschlichen Wesens dieser Dichter irgendwie aufleuchten. <lb n="pse_257.018"/>
Auch die Zeitbedingtheit des dichterischen Schaffens spielt <lb n="pse_257.019"/>
herein. Wir erkennen heute immer mehr, daß mittelalterliche <lb n="pse_257.020"/>
Dichtung bis in Einzelheiten nach bestimmten Zahlenverhältnissen <lb n="pse_257.021"/>
gebaut ist, während solche Baugrundsätze heute <lb n="pse_257.022"/>
selten mehr vorkommen. Diese Unterschiede führen uns <lb n="pse_257.023"/>
darauf, daß das Weltbild, in dem der Dichter lebt oder das er <lb n="pse_257.024"/>
selber geformt hat, eine ebensolche Rolle als Aufbaukraft <lb n="pse_257.025"/>
spielt. Die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse sind Ausdruck <lb n="pse_257.026"/>
mittelalterlichen Weltbildes. Auch weiß man heute, daß man <lb n="pse_257.027"/>
den Barockroman nicht mit Etiketten charakterisieren kann, <lb n="pse_257.028"/>
die aus der Entwicklung des Individualromans seit der Aufklärung <lb n="pse_257.029"/>
verständlich sind. Man verkennt die Struktur des <lb n="pse_257.030"/>
barocken, aber auch vielfach die des modernen Romans, <lb n="pse_257.031"/>
wenn man ihn als Entwicklungsroman sieht. Das Welt- und <lb n="pse_257.032"/>
Lebensbild, das in einer Dichtung lebendige Gestalt wird, <lb n="pse_257.033"/>
prägt sich auch im Aufbau aus oder umgekehrt, bestimmt den <lb n="pse_257.034"/>
Aufbau bis in die Einzelheiten.</p>
            <p><lb n="pse_257.035"/>
Eine weitere Aufbaukraft ist die dichterische Sprache. Die <lb n="pse_257.036"/>
Anlage einer Dichtung wie jedes Sprachwerks ist in der zeitlichen <lb n="pse_257.037"/>
Struktur der Sprache begründet. Jede sprachliche Aussage <lb n="pse_257.038"/>
verläuft notwendig zeitlich. Damit ist zunächst ein bestimmter
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0273] pse_257.001 Eine davon liegt in der Tatsache, daß jede Dichtung das Werk pse_257.002 eines Schöpfers ist. Die künstlerische Persönlichkeit eines pse_257.003 Dichters, also die gesamten Züge, die ihn als Künstler kennzeichnen, pse_257.004 wirkt am Aufbau der Werke mit. Grundlegendes pse_257.005 unterscheidet den Bau der Dramen Schillers, Kleists und Grillparzers. pse_257.006 Schillers Dramen sind durch die Zielstrebigkeit der pse_257.007 Anlage mit den deutlichen Steigerungen und Höhepunkten pse_257.008 am Ende von Akten gekennzeichnet; die von Kleist sind pse_257.009 bestimmt durch sein Menschenbild, durch die Spannungen pse_257.010 zwischen Innerem und Außenwelt, von Innigkeit und Gewalt, pse_257.011 die ihnen oft eine Art dreisätzigen Bau geben; bei Grillparzers pse_257.012 Dramen fällt die häufige Rahmung auf, ferner das pse_257.013 Stocken der Handlung gerade in der Mitte, die äußerliche pse_257.014 Erregtheit der Handlungsführung im vierten Akt. Selbstverständlich pse_257.015 sind das, so ausgesprochen, nur grobe Bestimmungen. pse_257.016 Aber es könnte gezeigt werden, wie da Grundzüge des pse_257.017 menschlichen Wesens dieser Dichter irgendwie aufleuchten. pse_257.018 Auch die Zeitbedingtheit des dichterischen Schaffens spielt pse_257.019 herein. Wir erkennen heute immer mehr, daß mittelalterliche pse_257.020 Dichtung bis in Einzelheiten nach bestimmten Zahlenverhältnissen pse_257.021 gebaut ist, während solche Baugrundsätze heute pse_257.022 selten mehr vorkommen. Diese Unterschiede führen uns pse_257.023 darauf, daß das Weltbild, in dem der Dichter lebt oder das er pse_257.024 selber geformt hat, eine ebensolche Rolle als Aufbaukraft pse_257.025 spielt. Die mittelalterlichen Zahlenverhältnisse sind Ausdruck pse_257.026 mittelalterlichen Weltbildes. Auch weiß man heute, daß man pse_257.027 den Barockroman nicht mit Etiketten charakterisieren kann, pse_257.028 die aus der Entwicklung des Individualromans seit der Aufklärung pse_257.029 verständlich sind. Man verkennt die Struktur des pse_257.030 barocken, aber auch vielfach die des modernen Romans, pse_257.031 wenn man ihn als Entwicklungsroman sieht. Das Welt- und pse_257.032 Lebensbild, das in einer Dichtung lebendige Gestalt wird, pse_257.033 prägt sich auch im Aufbau aus oder umgekehrt, bestimmt den pse_257.034 Aufbau bis in die Einzelheiten. pse_257.035 Eine weitere Aufbaukraft ist die dichterische Sprache. Die pse_257.036 Anlage einer Dichtung wie jedes Sprachwerks ist in der zeitlichen pse_257.037 Struktur der Sprache begründet. Jede sprachliche Aussage pse_257.038 verläuft notwendig zeitlich. Damit ist zunächst ein bestimmter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/273
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/273>, abgerufen am 10.05.2024.