Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

pse_173.001
eines ganzen Satzes, wenn die Negation am Ende steht und pse_173.002
nun gleichsam das ganze im Satz aufgebaute Stück geistiger pse_173.003
Welt wieder niedergerissen wird. Eindringlich besonders in pse_173.004
einem Satz der "Schwarzen Spinne" Gotthelfs: "Aber solch pse_173.005
süßer Friede, der still des Herrn harrt, war hinten im Tale, pse_173.006
war oben auf den Bergen nicht."

pse_173.007
Stilwerte entfalten dann besonders kurze oder besonders pse_173.008
lange Sätze. Es kommt da immer auf den inneren Antrieb pse_173.009
des Sprechenden an, ob er ein Stück Erfahrungswelt in einem pse_173.010
Zuge geistig neu aufbauen will. Die Haltung, aus der der Antrieb pse_173.011
erfolgt, kann emotional oder rational bedingt sein. Daraus pse_173.012
ergeben sich verschiedenste stilistische Wirkungen. Die pse_173.013
Stilwerte der kurzen Sätze werden erst deutlich, wenn mehrere pse_173.014
aufeinander folgen. Aus zwei Haltungen ergeben sich pse_173.015
stilwertige kurze Sätze. 1. Aus der Haltung der Schlichtheit, pse_173.016
die in einfacher Aufgeschlossenheit Stück um Stück der Erfahrung pse_173.017
in Sprache neu gestaltet. Hier gibt es verschiedene pse_173.018
Spielarten: einfältige Geborgenheit in der erlebten Welt wie pse_173.019
im Märchen, Dumpfheit und Stumpfheit, oder nüchterner pse_173.020
Tatsachenstil, wie ihn Schiller deutlich in seinen Erzählungen pse_173.021
erstrebt. 2. Aus der Haltung der Erregtheit, die aber durch pse_173.022
hinzutretende Gehemmtheit nicht ausschwingen kann. Das pse_173.023
kann Verhaltenheit sein wie im Schluß des "Werthers", Nervosität pse_173.024
oder auch deutliche Wucht. Ein Gedicht Weinhebers pse_173.025
"Erwiderung auf einen anonymen Brief" schließt, nachdem pse_173.026
schon die vorangehenden Strophen knappe Wucht hatten:

pse_173.027
Ihr braucht das nicht. Schlagt tot und beweist! pse_173.028
Ihr habt das Hirn, verrücktes Gewind, pse_173.029
die Welt zu vertieren, die Maschinen speist. pse_173.030
Wir haben gar nichts. Wir sind. Im Geist.

pse_173.031
Die mannigfachsten Stilhaltungen erfließen aus langen pse_173.032
Sätzen. Verschiedenes wirkt hier zusammen: die kräftige pse_173.033
Satzintention, also der lange Atem, der ein großes Stück pse_173.034
Weltgestaltung in eine weite Ablaufsbewegung einfängt. Das pse_173.035
Rhythmische spielt herein; der lange Satz ist eine rhythmische pse_173.036
Figur, ein Gebilde, das durch die Ablaufsgliederung bestimmt pse_173.037
ist. Zugleich aber hat er Architektur, innere Geschichtetheit

pse_173.001
eines ganzen Satzes, wenn die Negation am Ende steht und pse_173.002
nun gleichsam das ganze im Satz aufgebaute Stück geistiger pse_173.003
Welt wieder niedergerissen wird. Eindringlich besonders in pse_173.004
einem Satz der »Schwarzen Spinne« Gotthelfs: »Aber solch pse_173.005
süßer Friede, der still des Herrn harrt, war hinten im Tale, pse_173.006
war oben auf den Bergen nicht.«

pse_173.007
Stilwerte entfalten dann besonders kurze oder besonders pse_173.008
lange Sätze. Es kommt da immer auf den inneren Antrieb pse_173.009
des Sprechenden an, ob er ein Stück Erfahrungswelt in einem pse_173.010
Zuge geistig neu aufbauen will. Die Haltung, aus der der Antrieb pse_173.011
erfolgt, kann emotional oder rational bedingt sein. Daraus pse_173.012
ergeben sich verschiedenste stilistische Wirkungen. Die pse_173.013
Stilwerte der kurzen Sätze werden erst deutlich, wenn mehrere pse_173.014
aufeinander folgen. Aus zwei Haltungen ergeben sich pse_173.015
stilwertige kurze Sätze. 1. Aus der Haltung der Schlichtheit, pse_173.016
die in einfacher Aufgeschlossenheit Stück um Stück der Erfahrung pse_173.017
in Sprache neu gestaltet. Hier gibt es verschiedene pse_173.018
Spielarten: einfältige Geborgenheit in der erlebten Welt wie pse_173.019
im Märchen, Dumpfheit und Stumpfheit, oder nüchterner pse_173.020
Tatsachenstil, wie ihn Schiller deutlich in seinen Erzählungen pse_173.021
erstrebt. 2. Aus der Haltung der Erregtheit, die aber durch pse_173.022
hinzutretende Gehemmtheit nicht ausschwingen kann. Das pse_173.023
kann Verhaltenheit sein wie im Schluß des »Werthers«, Nervosität pse_173.024
oder auch deutliche Wucht. Ein Gedicht Weinhebers pse_173.025
»Erwiderung auf einen anonymen Brief« schließt, nachdem pse_173.026
schon die vorangehenden Strophen knappe Wucht hatten:

pse_173.027
Ihr braucht das nicht. Schlagt tot und beweist! pse_173.028
Ihr habt das Hirn, verrücktes Gewind, pse_173.029
die Welt zu vertieren, die Maschinen speist. pse_173.030
Wir haben gar nichts. Wir sind. Im Geist.

pse_173.031
Die mannigfachsten Stilhaltungen erfließen aus langen pse_173.032
Sätzen. Verschiedenes wirkt hier zusammen: die kräftige pse_173.033
Satzintention, also der lange Atem, der ein großes Stück pse_173.034
Weltgestaltung in eine weite Ablaufsbewegung einfängt. Das pse_173.035
Rhythmische spielt herein; der lange Satz ist eine rhythmische pse_173.036
Figur, ein Gebilde, das durch die Ablaufsgliederung bestimmt pse_173.037
ist. Zugleich aber hat er Architektur, innere Geschichtetheit 

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0189" n="173"/><lb n="pse_173.001"/>
eines ganzen Satzes, wenn die Negation am Ende steht und <lb n="pse_173.002"/>
nun gleichsam das ganze im Satz aufgebaute Stück geistiger <lb n="pse_173.003"/>
Welt wieder niedergerissen wird. Eindringlich besonders in <lb n="pse_173.004"/>
einem Satz der »Schwarzen Spinne« Gotthelfs: »Aber solch <lb n="pse_173.005"/>
süßer Friede, der still des Herrn harrt, war hinten im Tale, <lb n="pse_173.006"/>
war oben auf den Bergen nicht.«</p>
              <p><lb n="pse_173.007"/>
Stilwerte entfalten dann besonders kurze oder besonders <lb n="pse_173.008"/>
lange Sätze. Es kommt da immer auf den inneren Antrieb <lb n="pse_173.009"/>
des Sprechenden an, ob er ein Stück Erfahrungswelt in einem <lb n="pse_173.010"/>
Zuge geistig neu aufbauen will. Die Haltung, aus der der Antrieb <lb n="pse_173.011"/>
erfolgt, kann emotional oder rational bedingt sein. Daraus <lb n="pse_173.012"/>
ergeben sich verschiedenste stilistische Wirkungen. Die <lb n="pse_173.013"/>
Stilwerte der kurzen Sätze werden erst deutlich, wenn mehrere <lb n="pse_173.014"/>
aufeinander folgen. Aus zwei Haltungen ergeben sich <lb n="pse_173.015"/>
stilwertige kurze Sätze. 1. Aus der Haltung der Schlichtheit, <lb n="pse_173.016"/>
die in einfacher Aufgeschlossenheit Stück um Stück der Erfahrung <lb n="pse_173.017"/>
in Sprache neu gestaltet. Hier gibt es verschiedene <lb n="pse_173.018"/>
Spielarten: einfältige Geborgenheit in der erlebten Welt wie <lb n="pse_173.019"/>
im Märchen, Dumpfheit und Stumpfheit, oder nüchterner <lb n="pse_173.020"/>
Tatsachenstil, wie ihn Schiller deutlich in seinen Erzählungen <lb n="pse_173.021"/>
erstrebt. 2. Aus der Haltung der Erregtheit, die aber durch <lb n="pse_173.022"/>
hinzutretende Gehemmtheit nicht ausschwingen kann. Das <lb n="pse_173.023"/>
kann Verhaltenheit sein wie im Schluß des »Werthers«, Nervosität <lb n="pse_173.024"/>
oder auch deutliche Wucht. Ein Gedicht Weinhebers <lb n="pse_173.025"/>
»Erwiderung auf einen anonymen Brief« schließt, nachdem <lb n="pse_173.026"/>
schon die vorangehenden Strophen knappe Wucht hatten:</p>
              <lb n="pse_173.027"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">Ihr braucht das nicht. Schlagt tot und beweist!</hi> </l>
                <lb n="pse_173.028"/>
                <l> <hi rendition="#aq">Ihr habt das Hirn, verrücktes Gewind,</hi> </l>
                <lb n="pse_173.029"/>
                <l> <hi rendition="#aq">die Welt zu vertieren, die Maschinen speist.</hi> </l>
                <lb n="pse_173.030"/>
                <l> <hi rendition="#aq">Wir haben gar nichts. Wir sind. Im Geist.</hi> </l>
              </lg>
              <p><lb n="pse_173.031"/>
Die mannigfachsten Stilhaltungen erfließen aus langen <lb n="pse_173.032"/>
Sätzen. Verschiedenes wirkt hier zusammen: die kräftige <lb n="pse_173.033"/>
Satzintention, also der lange Atem, der ein großes Stück <lb n="pse_173.034"/>
Weltgestaltung in eine weite Ablaufsbewegung einfängt. Das <lb n="pse_173.035"/>
Rhythmische spielt herein; der lange Satz ist eine rhythmische <lb n="pse_173.036"/>
Figur, ein Gebilde, das durch die Ablaufsgliederung bestimmt <lb n="pse_173.037"/>
ist. Zugleich aber hat er Architektur, innere Geschichtetheit
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0189] pse_173.001 eines ganzen Satzes, wenn die Negation am Ende steht und pse_173.002 nun gleichsam das ganze im Satz aufgebaute Stück geistiger pse_173.003 Welt wieder niedergerissen wird. Eindringlich besonders in pse_173.004 einem Satz der »Schwarzen Spinne« Gotthelfs: »Aber solch pse_173.005 süßer Friede, der still des Herrn harrt, war hinten im Tale, pse_173.006 war oben auf den Bergen nicht.« pse_173.007 Stilwerte entfalten dann besonders kurze oder besonders pse_173.008 lange Sätze. Es kommt da immer auf den inneren Antrieb pse_173.009 des Sprechenden an, ob er ein Stück Erfahrungswelt in einem pse_173.010 Zuge geistig neu aufbauen will. Die Haltung, aus der der Antrieb pse_173.011 erfolgt, kann emotional oder rational bedingt sein. Daraus pse_173.012 ergeben sich verschiedenste stilistische Wirkungen. Die pse_173.013 Stilwerte der kurzen Sätze werden erst deutlich, wenn mehrere pse_173.014 aufeinander folgen. Aus zwei Haltungen ergeben sich pse_173.015 stilwertige kurze Sätze. 1. Aus der Haltung der Schlichtheit, pse_173.016 die in einfacher Aufgeschlossenheit Stück um Stück der Erfahrung pse_173.017 in Sprache neu gestaltet. Hier gibt es verschiedene pse_173.018 Spielarten: einfältige Geborgenheit in der erlebten Welt wie pse_173.019 im Märchen, Dumpfheit und Stumpfheit, oder nüchterner pse_173.020 Tatsachenstil, wie ihn Schiller deutlich in seinen Erzählungen pse_173.021 erstrebt. 2. Aus der Haltung der Erregtheit, die aber durch pse_173.022 hinzutretende Gehemmtheit nicht ausschwingen kann. Das pse_173.023 kann Verhaltenheit sein wie im Schluß des »Werthers«, Nervosität pse_173.024 oder auch deutliche Wucht. Ein Gedicht Weinhebers pse_173.025 »Erwiderung auf einen anonymen Brief« schließt, nachdem pse_173.026 schon die vorangehenden Strophen knappe Wucht hatten: pse_173.027 Ihr braucht das nicht. Schlagt tot und beweist! pse_173.028 Ihr habt das Hirn, verrücktes Gewind, pse_173.029 die Welt zu vertieren, die Maschinen speist. pse_173.030 Wir haben gar nichts. Wir sind. Im Geist. pse_173.031 Die mannigfachsten Stilhaltungen erfließen aus langen pse_173.032 Sätzen. Verschiedenes wirkt hier zusammen: die kräftige pse_173.033 Satzintention, also der lange Atem, der ein großes Stück pse_173.034 Weltgestaltung in eine weite Ablaufsbewegung einfängt. Das pse_173.035 Rhythmische spielt herein; der lange Satz ist eine rhythmische pse_173.036 Figur, ein Gebilde, das durch die Ablaufsgliederung bestimmt pse_173.037 ist. Zugleich aber hat er Architektur, innere Geschichtetheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/189
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/189>, abgerufen am 22.11.2024.