"Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren pse_165.002 Traum."
pse_165.003
Später konnte diese Form zur rationalen Mitteilung von etwas pse_165.004 Geschehenem werden. Am schönsten kann der Stilunterschied pse_165.005 der beiden Formen noch immer am Schluß des "Werther" pse_165.006 erkannt werden. Bis zum letzten Satz immer das Präteritum, pse_165.007 der unabgelenkte Blick in eine andere Zeit, dann:
pse_165.008 "Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet." pse_165.009 Der Erzähler entfernt sich und den Leser vom Geschehen, pse_165.010 "indem er durch das Perfekt die Erzähl- (bzw. Lese-) Gegenwart pse_165.011 als eigenen Standpunkt wieder wachruft" (Kayser). pse_165.012 Damit rundet er das Werk ab und schafft so das ästhetische pse_165.013 Schlußerlebnis, zugleich aber hebt diese Distanzierung vom pse_165.014 Geschehen, die durch den Sprung in die Gegenwart erreicht pse_165.015 wird, die Einsamkeit Werthers -- auch wir verlassen ihn.
pse_165.016 Das konnten nur einige Hinweise sein. Würden sie zu einer pse_165.017 umfassenden Betrachtung der Stilmöglichkeiten aller Formen pse_165.018 ausgebaut, so ergäbe sich: schon in diesen scheinbar so wenig pse_165.019 mit innerer Haltung zusammenhängenden Elementen hat der pse_165.020 Dichter Gebilde in der Hand, die ihm stilhafte Sprache formen pse_165.021 helfen. Denn auch sie erwachsen im tiefsten aus bestimmten pse_165.022 Erfassungsweisen, in denen auch unser Inneres mitschwingen pse_165.023 kann.
pse_165.024 Die Stilmöglichkeiten entfalten sich unserem Blick noch pse_165.025 viel reicher, wenn wir die Wortgruppen betrachten. Im Zusammenhang pse_165.026 von Worten können die einzelnen Wörter pse_165.027 nicht nur ihre latenten Stilwerte erst recht aufleuchten lassen, pse_165.028 sondern aus dem Zusammenklang mehrerer Worte können pse_165.029 neue Stilwerte lebendig werden und nun ihr Gewebe neuerlich pse_165.030 bereichern. Weiter aber entwickeln die Wortgruppen pse_165.031 als solche Stilwerte, die nur im Gefüge von Worten möglich pse_165.032 sind. Das erste ist die Verdinglichung. Das Zusammentreten pse_165.033 mehrerer Wortgehalte engt die sprachlich gestalteten Erfahrungsstücke pse_165.034 ein, sie treten uns deutlich näher, gewinnen pse_165.035 mehr Selbständigkeit und Eigenleben. Darin ruht ja der Wert pse_165.036 des bestimmten Artikels, aber auch die hinweisenden Fürwörter pse_165.037 wirken so. Ein Weiteres ist die Verdichtung. Schon pse_165.038 die Wiederholung hat einen solchen Wert:
pse_165.001
»Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren pse_165.002 Traum.«
pse_165.003
Später konnte diese Form zur rationalen Mitteilung von etwas pse_165.004 Geschehenem werden. Am schönsten kann der Stilunterschied pse_165.005 der beiden Formen noch immer am Schluß des »Werther« pse_165.006 erkannt werden. Bis zum letzten Satz immer das Präteritum, pse_165.007 der unabgelenkte Blick in eine andere Zeit, dann:
pse_165.008 »Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« pse_165.009 Der Erzähler entfernt sich und den Leser vom Geschehen, pse_165.010 »indem er durch das Perfekt die Erzähl- (bzw. Lese-) Gegenwart pse_165.011 als eigenen Standpunkt wieder wachruft« (Kayser). pse_165.012 Damit rundet er das Werk ab und schafft so das ästhetische pse_165.013 Schlußerlebnis, zugleich aber hebt diese Distanzierung vom pse_165.014 Geschehen, die durch den Sprung in die Gegenwart erreicht pse_165.015 wird, die Einsamkeit Werthers — auch wir verlassen ihn.
pse_165.016 Das konnten nur einige Hinweise sein. Würden sie zu einer pse_165.017 umfassenden Betrachtung der Stilmöglichkeiten aller Formen pse_165.018 ausgebaut, so ergäbe sich: schon in diesen scheinbar so wenig pse_165.019 mit innerer Haltung zusammenhängenden Elementen hat der pse_165.020 Dichter Gebilde in der Hand, die ihm stilhafte Sprache formen pse_165.021 helfen. Denn auch sie erwachsen im tiefsten aus bestimmten pse_165.022 Erfassungsweisen, in denen auch unser Inneres mitschwingen pse_165.023 kann.
pse_165.024 Die Stilmöglichkeiten entfalten sich unserem Blick noch pse_165.025 viel reicher, wenn wir die Wortgruppen betrachten. Im Zusammenhang pse_165.026 von Worten können die einzelnen Wörter pse_165.027 nicht nur ihre latenten Stilwerte erst recht aufleuchten lassen, pse_165.028 sondern aus dem Zusammenklang mehrerer Worte können pse_165.029 neue Stilwerte lebendig werden und nun ihr Gewebe neuerlich pse_165.030 bereichern. Weiter aber entwickeln die Wortgruppen pse_165.031 als solche Stilwerte, die nur im Gefüge von Worten möglich pse_165.032 sind. Das erste ist die Verdinglichung. Das Zusammentreten pse_165.033 mehrerer Wortgehalte engt die sprachlich gestalteten Erfahrungsstücke pse_165.034 ein, sie treten uns deutlich näher, gewinnen pse_165.035 mehr Selbständigkeit und Eigenleben. Darin ruht ja der Wert pse_165.036 des bestimmten Artikels, aber auch die hinweisenden Fürwörter pse_165.037 wirken so. Ein Weiteres ist die Verdichtung. Schon pse_165.038 die Wiederholung hat einen solchen Wert:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0181"n="165"/><lbn="pse_165.001"/><p><hirendition="#et">»Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren <lbn="pse_165.002"/>
Traum.«</hi></p><lbn="pse_165.003"/><p>Später konnte diese Form zur rationalen Mitteilung von etwas <lbn="pse_165.004"/>
Geschehenem werden. Am schönsten kann der Stilunterschied <lbn="pse_165.005"/>
der beiden Formen noch immer am Schluß des »Werther« <lbn="pse_165.006"/>
erkannt werden. Bis zum letzten Satz immer das Präteritum, <lbn="pse_165.007"/>
der unabgelenkte Blick in eine andere Zeit, dann:</p><p><lbn="pse_165.008"/>
»Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« <lbn="pse_165.009"/>
Der Erzähler entfernt sich und den Leser vom Geschehen, <lbn="pse_165.010"/>
»indem er durch das Perfekt die Erzähl- (bzw. Lese-) Gegenwart <lbn="pse_165.011"/>
als eigenen Standpunkt wieder wachruft« (Kayser). <lbn="pse_165.012"/>
Damit rundet er das Werk ab und schafft so das ästhetische <lbn="pse_165.013"/>
Schlußerlebnis, zugleich aber hebt diese Distanzierung vom <lbn="pse_165.014"/>
Geschehen, die durch den Sprung in die Gegenwart erreicht <lbn="pse_165.015"/>
wird, die Einsamkeit Werthers — auch wir verlassen ihn.</p><p><lbn="pse_165.016"/>
Das konnten nur einige Hinweise sein. Würden sie zu einer <lbn="pse_165.017"/>
umfassenden Betrachtung der Stilmöglichkeiten aller Formen <lbn="pse_165.018"/>
ausgebaut, so ergäbe sich: schon in diesen scheinbar so wenig <lbn="pse_165.019"/>
mit innerer Haltung zusammenhängenden Elementen hat der <lbn="pse_165.020"/>
Dichter Gebilde in der Hand, die ihm stilhafte Sprache formen <lbn="pse_165.021"/>
helfen. Denn auch sie erwachsen im tiefsten aus bestimmten <lbn="pse_165.022"/>
Erfassungsweisen, in denen auch unser Inneres mitschwingen <lbn="pse_165.023"/>
kann.</p><p><lbn="pse_165.024"/>
Die Stilmöglichkeiten entfalten sich unserem Blick noch <lbn="pse_165.025"/>
viel reicher, wenn wir die <hirendition="#i">Wortgruppen</hi> betrachten. Im Zusammenhang <lbn="pse_165.026"/>
von Worten können die einzelnen Wörter <lbn="pse_165.027"/>
nicht nur ihre latenten Stilwerte erst recht aufleuchten lassen, <lbn="pse_165.028"/>
sondern aus dem Zusammenklang mehrerer Worte können <lbn="pse_165.029"/>
neue Stilwerte lebendig werden und nun ihr Gewebe neuerlich <lbn="pse_165.030"/>
bereichern. Weiter aber entwickeln die Wortgruppen <lbn="pse_165.031"/>
als solche Stilwerte, die nur im Gefüge von Worten möglich <lbn="pse_165.032"/>
sind. Das erste ist die Verdinglichung. Das Zusammentreten <lbn="pse_165.033"/>
mehrerer Wortgehalte engt die sprachlich gestalteten Erfahrungsstücke <lbn="pse_165.034"/>
ein, sie treten uns deutlich näher, gewinnen <lbn="pse_165.035"/>
mehr Selbständigkeit und Eigenleben. Darin ruht ja der Wert <lbn="pse_165.036"/>
des bestimmten Artikels, aber auch die hinweisenden Fürwörter <lbn="pse_165.037"/>
wirken so. Ein Weiteres ist die Verdichtung. Schon <lbn="pse_165.038"/>
die Wiederholung hat einen solchen Wert:</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[165/0181]
pse_165.001
»Ich hab die Nacht geträumet / Wohl einen schweren pse_165.002
Traum.«
pse_165.003
Später konnte diese Form zur rationalen Mitteilung von etwas pse_165.004
Geschehenem werden. Am schönsten kann der Stilunterschied pse_165.005
der beiden Formen noch immer am Schluß des »Werther« pse_165.006
erkannt werden. Bis zum letzten Satz immer das Präteritum, pse_165.007
der unabgelenkte Blick in eine andere Zeit, dann:
pse_165.008
»Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« pse_165.009
Der Erzähler entfernt sich und den Leser vom Geschehen, pse_165.010
»indem er durch das Perfekt die Erzähl- (bzw. Lese-) Gegenwart pse_165.011
als eigenen Standpunkt wieder wachruft« (Kayser). pse_165.012
Damit rundet er das Werk ab und schafft so das ästhetische pse_165.013
Schlußerlebnis, zugleich aber hebt diese Distanzierung vom pse_165.014
Geschehen, die durch den Sprung in die Gegenwart erreicht pse_165.015
wird, die Einsamkeit Werthers — auch wir verlassen ihn.
pse_165.016
Das konnten nur einige Hinweise sein. Würden sie zu einer pse_165.017
umfassenden Betrachtung der Stilmöglichkeiten aller Formen pse_165.018
ausgebaut, so ergäbe sich: schon in diesen scheinbar so wenig pse_165.019
mit innerer Haltung zusammenhängenden Elementen hat der pse_165.020
Dichter Gebilde in der Hand, die ihm stilhafte Sprache formen pse_165.021
helfen. Denn auch sie erwachsen im tiefsten aus bestimmten pse_165.022
Erfassungsweisen, in denen auch unser Inneres mitschwingen pse_165.023
kann.
pse_165.024
Die Stilmöglichkeiten entfalten sich unserem Blick noch pse_165.025
viel reicher, wenn wir die Wortgruppen betrachten. Im Zusammenhang pse_165.026
von Worten können die einzelnen Wörter pse_165.027
nicht nur ihre latenten Stilwerte erst recht aufleuchten lassen, pse_165.028
sondern aus dem Zusammenklang mehrerer Worte können pse_165.029
neue Stilwerte lebendig werden und nun ihr Gewebe neuerlich pse_165.030
bereichern. Weiter aber entwickeln die Wortgruppen pse_165.031
als solche Stilwerte, die nur im Gefüge von Worten möglich pse_165.032
sind. Das erste ist die Verdinglichung. Das Zusammentreten pse_165.033
mehrerer Wortgehalte engt die sprachlich gestalteten Erfahrungsstücke pse_165.034
ein, sie treten uns deutlich näher, gewinnen pse_165.035
mehr Selbständigkeit und Eigenleben. Darin ruht ja der Wert pse_165.036
des bestimmten Artikels, aber auch die hinweisenden Fürwörter pse_165.037
wirken so. Ein Weiteres ist die Verdichtung. Schon pse_165.038
die Wiederholung hat einen solchen Wert:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/181>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.