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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Kenntnisse vor. Der eine zieht Kriminalromane vor, pse_002.002
der andere Kurzgeschichten, wieder jemand lehnt lyrische pse_002.003
Gedichte oder Tragödien ab und findet Idyllen langweilig. pse_002.004
Im Autobus greift man kaum zu Versen, eher in seltenen pse_002.005
Augenblicken beseligter Stimmung. Hinter all diesen Neigungen pse_002.006
stecken irgendwelche Kenntnisse über Literatur, also pse_002.007
etwa über den Unterschied von Roman und Novelle, von pse_002.008
Vers und Prosa, von Kriminalroman und Lyrik. Zugleich pse_002.009
rühren die Menschen damit an eine der bedeutsamsten Entfaltungen pse_002.010
schöpferischer Kräfte: an die Möglichkeiten von pse_002.011
Dichtung, wie sie sich im Laufe der Kulturgeschichte offenbaren, pse_002.012
in der Bindung an die Tradition und hohe Vorbilder, pse_002.013
im Anstürmen gegen sie. All diese Kenntnisse, nicht über die pse_002.014
Geschichte der Literatur in einem Volk, nicht über den englischen pse_002.015
Roman im besonderen oder über Dante, sondern pse_002.016
über das Wesen und die Erscheinungsformen der Dichtung pse_002.017
überhaupt, können sich zu einem gewissen System zusammenschließen. pse_002.018
Eine solche geschlossene Darstellung der pse_002.019
Dichtung überhaupt nennen wir eine Poetik.

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Aber mit diesem Wort hat es eine eigene Bewandtnis, es pse_002.021
steht heute in keinem guten Ruf. Das hängt mit der Geschichte pse_002.022
der Poetik
und auch mit den Wandlungen von der pse_002.023
Auffassung der Dichtung zusammen.

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Man denkt da zunächst gleich an die berühmte Poetik des pse_002.025
Aristoteles. Tatsächlich finden wir schon in der Antike die pse_002.026
möglichen Arten, eine Poetik zu schreiben, vorgebildet. Das pse_002.027
Buch des Aristoteles ist nur als Bruchstück auf uns gekommen, pse_002.028
man betrachtet es als eine Art Anhang zu seiner Rhetorik pse_002.029
und Logik, manche dachten, es sei eine Art unvollständig pse_002.030
erhaltene Kollegheft-Skizze. Auf keinen Fall ist es ein Lehrbuch pse_002.031
für solche, die Dichter werden wollen, sondern eine pse_002.032
Beschreibung und Registrierung der von Aristoteles vorgefundenen pse_002.033
Arten und Formen. Dagegen ist der Brief des pse_002.034
Horaz an die Pisonen, als "ars poetica" bekannt, wirklich ein pse_002.035
Lehrbuch für angehende Dichter. Was Plotin in seinen Enneaden pse_002.036
über Dichtung sagte, konnte erst durch Shaftesbury im pse_002.037
18. Jahrhundert wirksam werden. Denn bis dahin blieben pse_002.038
Aristoteles und Horaz die Lehrmeister für die Poetik. Und

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Kenntnisse vor. Der eine zieht Kriminalromane vor, pse_002.002
der andere Kurzgeschichten, wieder jemand lehnt lyrische pse_002.003
Gedichte oder Tragödien ab und findet Idyllen langweilig. pse_002.004
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Aber mit diesem Wort hat es eine eigene Bewandtnis, es pse_002.021
steht heute in keinem guten Ruf. Das hängt mit der Geschichte pse_002.022
der Poetik
und auch mit den Wandlungen von der pse_002.023
Auffassung der Dichtung zusammen.

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Horaz an die Pisonen, als »ars poetica« bekannt, wirklich ein pse_002.035
Lehrbuch für angehende Dichter. Was Plotin in seinen Enneaden pse_002.036
über Dichtung sagte, konnte erst durch Shaftesbury im pse_002.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/18>, abgerufen am 23.11.2024.