pse_138.001 bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002 Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003 Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004 seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005 Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006 dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007 sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008 diese Seite ihres Wesens nicht.
pse_138.009 Gehalt und Gestalt
pse_138.010 Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011 unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012 Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013 berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014 dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015 im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016 über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017 Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018 einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019 Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020 Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021 und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022 daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023 dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024 den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025 gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026 in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. pse_138.027 Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028 allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029 abplagen muß -- es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030 Hinführung zur Dichtung ist --, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031 geläufig. Es kann sogar -- horribile dictu -- geschehen, daß er pse_138.032 den "Inhalt" des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033 und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034 doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber pse_138.035 nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,
pse_138.001 bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002 Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003 Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004 seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005 Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006 dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007 sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008 diese Seite ihres Wesens nicht.
pse_138.009 Gehalt und Gestalt
pse_138.010 Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011 unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012 Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013 berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014 dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015 im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016 über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017 Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018 einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019 Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020 Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021 und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022 daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023 dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024 den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025 gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026 in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. pse_138.027 Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028 allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029 abplagen muß — es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030 Hinführung zur Dichtung ist —, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031 geläufig. Es kann sogar — horribile dictu — geschehen, daß er pse_138.032 den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033 und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034 doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber pse_138.035 nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,
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bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002
Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003
Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004
seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005
Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006
dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007
sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008
diese Seite ihres Wesens nicht.
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Gehalt und Gestalt pse_138.010
Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011
unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012
Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013
berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014
dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015
im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016
über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017
Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018
einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019
Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020
Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021
und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022
daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023
dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024
den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025
gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026
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Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028
allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029
abplagen muß — es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030
Hinführung zur Dichtung ist —, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031
geläufig. Es kann sogar — horribile dictu — geschehen, daß er pse_138.032
den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033
und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/154>, abgerufen am 24.11.2024.
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