Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_138.001
bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002
Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003
Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004
seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005
Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006
dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007
sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008
diese Seite ihres Wesens nicht.

pse_138.009
Gehalt und Gestalt

pse_138.010
Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011
unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012
Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013
berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014
dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015
im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016
über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017
Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018
einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019
Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020
Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021
und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022
daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023
dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024
den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025
gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026
in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. pse_138.027
Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028
allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029
abplagen muß -- es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030
Hinführung zur Dichtung ist --, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031
geläufig. Es kann sogar -- horribile dictu -- geschehen, daß er pse_138.032
den "Inhalt" des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033
und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034
doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber pse_138.035
nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,

pse_138.001
bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002
Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003
Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004
seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005
Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006
dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007
sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008
diese Seite ihres Wesens nicht.

pse_138.009
Gehalt und Gestalt

pse_138.010
Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011
unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012
Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013
berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014
dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015
im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016
über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017
Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018
einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019
Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020
Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021
und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022
daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023
dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024
den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025
gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026
in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. pse_138.027
Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028
allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029
abplagen muß — es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030
Hinführung zur Dichtung ist —, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031
geläufig. Es kann sogar — horribile dictu — geschehen, daß er pse_138.032
den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033
und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034
doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber pse_138.035
nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0154" n="138"/><lb n="pse_138.001"/>
bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem <lb n="pse_138.002"/>
Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches <lb n="pse_138.003"/>
Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch <lb n="pse_138.004"/>
seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind <lb n="pse_138.005"/>
Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in <lb n="pse_138.006"/>
dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind <lb n="pse_138.007"/>
sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt <lb n="pse_138.008"/>
diese Seite ihres Wesens nicht.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pse_138.009"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Gehalt und Gestalt</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_138.010"/>
Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen <lb n="pse_138.011"/>
unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen <lb n="pse_138.012"/>
Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, <lb n="pse_138.013"/>
berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau <lb n="pse_138.014"/>
dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir <lb n="pse_138.015"/>
im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir <lb n="pse_138.016"/>
über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische <lb n="pse_138.017"/>
Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In <lb n="pse_138.018"/>
einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um <lb n="pse_138.019"/> <hi rendition="#i">Inhalt und Form.</hi> Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das <lb n="pse_138.020"/>
Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, <lb n="pse_138.021"/>
und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, <lb n="pse_138.022"/>
daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf <lb n="pse_138.023"/>
dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, <lb n="pse_138.024"/>
den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal <lb n="pse_138.025"/>
gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon <lb n="pse_138.026"/>
in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. <lb n="pse_138.027"/>
Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor <lb n="pse_138.028"/>
allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr <lb n="pse_138.029"/>
abplagen muß &#x2014; es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige <lb n="pse_138.030"/>
Hinführung zur Dichtung ist &#x2014;, ist dieses Begriffspaar nur zu <lb n="pse_138.031"/>
geläufig. Es kann sogar &#x2014; horribile dictu &#x2014; geschehen, daß er <lb n="pse_138.032"/>
den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- <lb n="pse_138.033"/>
und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich <lb n="pse_138.034"/>
doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber <lb n="pse_138.035"/>
nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[138/0154] pse_138.001 bedeutet zweierlei. 1. Als menschliches Werk gehört es dem pse_138.002 Bereich des Vergänglichen, der Geschichte an. 2. Als ästhetisches pse_138.003 Gebilde führt es uns aus dem Bereich der Realität durch pse_138.004 seine Gestalt ins Tiefere, Dauernde, Ewige. So gesehen sind pse_138.005 Dichtungen aus dem Fluß des Geschichtlichen enthoben, in pse_138.006 dem, was sie uns in ihrem Dasein als Gebilde offenbaren, sind pse_138.007 sie dauernd, ewig. Daß sie zerstört werden können, berührt pse_138.008 diese Seite ihres Wesens nicht. pse_138.009 Gehalt und Gestalt pse_138.010 Mit diesem in den dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen pse_138.011 unseres Jahrhunderts wichtigen und umstrittenen pse_138.012 Wortpaar, das vor allem Walzel in die Debatte geworfen hat, pse_138.013 berühren wir eine Frage, die schon der bisherige Aufbau pse_138.014 dieses Buches nahegelegt hat. Denn immer wieder haben wir pse_138.015 im zweiten Teil darauf verwiesen, daß in all dem, was wir pse_138.016 über Wirklichkeit und Weltbild gesagt haben, die künstlerische pse_138.017 Gestaltung der Dichtung mitgedacht werden müßte. In pse_138.018 einer allgemeiner bekannten Formulierung dreht es sich um pse_138.019 Inhalt und Form. Bei einem Gefäß voll Flüssigkeit ist uns das pse_138.020 Begriffspaar verständlich. Das Gefäß hat eine bestimmte Form, pse_138.021 und die Flüssigkeit in ihm ist der Inhalt. Dabei zeigt sich schon, pse_138.022 daß der Inhalt die Form des Gefäßes annimmt und sogar auf pse_138.023 dieses Gefäß angewiesen ist. Ein Kuchen aber ist auf die Kuchenform, pse_138.024 den Model, nicht mehr angewiesen, wenn er einmal pse_138.025 gebacken ist, aber er behält die Form des Models. Schon pse_138.026 in diesen Äußerlichkeiten ergeben sich eigenartige Zusammenhänge. pse_138.027 Aber auch dem der Dichtkunst Beflissenen, vor pse_138.028 allem dem armen Schüler, der sich unterrichtsmäßig mit ihr pse_138.029 abplagen muß — es bleibe hier dahingestellt, ob das richtige pse_138.030 Hinführung zur Dichtung ist —, ist dieses Begriffspaar nur zu pse_138.031 geläufig. Es kann sogar — horribile dictu — geschehen, daß er pse_138.032 den »Inhalt« des Mondlieds angeben und hinterdrein die Vers- pse_138.033 und Strophenform bestimmen muß. Steckt hinter diesem hoffentlich pse_138.034 doch bei den Haaren herbeigezogenen Mißbrauch aber pse_138.035 nicht etwas Richtiges? Man kann doch das Was eines Romans,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/154
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/154>, abgerufen am 24.11.2024.