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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Smyrna.
kopfgroßen Klaubsteinen und dazwischen ebenso großen Löchern.
An und auf diesem Quai nun entfaltet sich das eigentliche Leben
Smyrnas, das Leben nach unseren modernen Culturbegriffen
nämlich, das wir nach der Menge fashionabler Genüsse, oder
wenigstens nach dem Vorhandensein ihrer Repräsentanten, taxiren.
Das typische Wesen der autochthonen Bevölkerung und die Kund-
gebungen ihrer originellen Lebensbeziehungen vermag man auch
in Smyrna, wie in allen orientalischen Städten, nur in den
Wohnungen und Quartieren derselben ersprießlich zu belauschen.
Ob dies Studium speciell hier für denjenigen besonderen
Nutzen zu haben vermag, der beispielsweise Constantinopel ge-
sehen und durchlebt hat, will ich dahin gestellt sein lassen; immer-
hin aber finden sich auch hier interessante Momente aus dem
Volksleben. Im Uebrigen aber ist das türkische Volk, da haupt-
sächlich nur die Griechen mit dem Handel sich beschäftigen, arm
und sollen Fälle nicht selten sein, daß Leute auf offener Straße
vor Hunger sterben 1.

Wir wenden uns vorerst nach der neuen Quai-Straße.
Wer auf der großen Stambuler Brücke gestanden und die Re-
präsentanten so vieler Völker der alten Welt in mehr oder minder
geschäftlicher Eile an sich vorüberwandeln gesehen hat, den wird
das Smyrnaer Quai-Bild ziemlich kühl lassen. Auf der Wasser-
seite selbst stehen die Häuser noch stellenweise dicht zusammen-
gedrängt, ja viele schweben, auf Piloten erbaut, über den Wassern
des Hafens, und während unter den Füßen ehrsamer Moslims
die schwachen Wellen des Meeres plätschern, streift durch den
luftigen Holzbau der kühle Westwind, ein wahres Labsal für die
schlafmüden Korangelehrten, die hier mit Vorliebe in ein wesen-
loses Nichts hinausbrüten ... Eine Gedankenlosigkeit bei wachem
Geiste erscheint uns nachgerade als ein Problem; für den Orien-
talen und speciell wieder für den Türken ist sie ein vielbegehrtes
Glück, dem er nahezu die ganze Tageszeit über obliegt, während
er die Arbeit den übrigen zweibeinigen Geschöpfen, das Regieren
dem lieben Herrgott überläßt. Welche Aussicht eine Wieder-
geburt des osmanischen Reiches im Sinne einer abendländischen
politischen Freiheit unter diesem Gesichtspunkte von vornher

1 O. Fraas, "Drei Monate am Labanon", 51.

Smyrna.
kopfgroßen Klaubſteinen und dazwiſchen ebenſo großen Löchern.
An und auf dieſem Quai nun entfaltet ſich das eigentliche Leben
Smyrnas, das Leben nach unſeren modernen Culturbegriffen
nämlich, das wir nach der Menge faſhionabler Genüſſe, oder
wenigſtens nach dem Vorhandenſein ihrer Repräſentanten, taxiren.
Das typiſche Weſen der autochthonen Bevölkerung und die Kund-
gebungen ihrer originellen Lebensbeziehungen vermag man auch
in Smyrna, wie in allen orientaliſchen Städten, nur in den
Wohnungen und Quartieren derſelben erſprießlich zu belauſchen.
Ob dies Studium ſpeciell hier für denjenigen beſonderen
Nutzen zu haben vermag, der beiſpielsweiſe Conſtantinopel ge-
ſehen und durchlebt hat, will ich dahin geſtellt ſein laſſen; immer-
hin aber finden ſich auch hier intereſſante Momente aus dem
Volksleben. Im Uebrigen aber iſt das türkiſche Volk, da haupt-
ſächlich nur die Griechen mit dem Handel ſich beſchäftigen, arm
und ſollen Fälle nicht ſelten ſein, daß Leute auf offener Straße
vor Hunger ſterben 1.

Wir wenden uns vorerſt nach der neuen Quai-Straße.
Wer auf der großen Stambuler Brücke geſtanden und die Re-
präſentanten ſo vieler Völker der alten Welt in mehr oder minder
geſchäftlicher Eile an ſich vorüberwandeln geſehen hat, den wird
das Smyrnaer Quai-Bild ziemlich kühl laſſen. Auf der Waſſer-
ſeite ſelbſt ſtehen die Häuſer noch ſtellenweiſe dicht zuſammen-
gedrängt, ja viele ſchweben, auf Piloten erbaut, über den Waſſern
des Hafens, und während unter den Füßen ehrſamer Moslims
die ſchwachen Wellen des Meeres plätſchern, ſtreift durch den
luftigen Holzbau der kühle Weſtwind, ein wahres Labſal für die
ſchlafmüden Korangelehrten, die hier mit Vorliebe in ein weſen-
loſes Nichts hinausbrüten … Eine Gedankenloſigkeit bei wachem
Geiſte erſcheint uns nachgerade als ein Problem; für den Orien-
talen und ſpeciell wieder für den Türken iſt ſie ein vielbegehrtes
Glück, dem er nahezu die ganze Tageszeit über obliegt, während
er die Arbeit den übrigen zweibeinigen Geſchöpfen, das Regieren
dem lieben Herrgott überläßt. Welche Ausſicht eine Wieder-
geburt des osmaniſchen Reiches im Sinne einer abendländiſchen
politiſchen Freiheit unter dieſem Geſichtspunkte von vornher

1 O. Fraas, „Drei Monate am Labanon“, 51.
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[171/0203] Smyrna. kopfgroßen Klaubſteinen und dazwiſchen ebenſo großen Löchern. An und auf dieſem Quai nun entfaltet ſich das eigentliche Leben Smyrnas, das Leben nach unſeren modernen Culturbegriffen nämlich, das wir nach der Menge faſhionabler Genüſſe, oder wenigſtens nach dem Vorhandenſein ihrer Repräſentanten, taxiren. Das typiſche Weſen der autochthonen Bevölkerung und die Kund- gebungen ihrer originellen Lebensbeziehungen vermag man auch in Smyrna, wie in allen orientaliſchen Städten, nur in den Wohnungen und Quartieren derſelben erſprießlich zu belauſchen. Ob dies Studium ſpeciell hier für denjenigen beſonderen Nutzen zu haben vermag, der beiſpielsweiſe Conſtantinopel ge- ſehen und durchlebt hat, will ich dahin geſtellt ſein laſſen; immer- hin aber finden ſich auch hier intereſſante Momente aus dem Volksleben. Im Uebrigen aber iſt das türkiſche Volk, da haupt- ſächlich nur die Griechen mit dem Handel ſich beſchäftigen, arm und ſollen Fälle nicht ſelten ſein, daß Leute auf offener Straße vor Hunger ſterben 1. Wir wenden uns vorerſt nach der neuen Quai-Straße. Wer auf der großen Stambuler Brücke geſtanden und die Re- präſentanten ſo vieler Völker der alten Welt in mehr oder minder geſchäftlicher Eile an ſich vorüberwandeln geſehen hat, den wird das Smyrnaer Quai-Bild ziemlich kühl laſſen. Auf der Waſſer- ſeite ſelbſt ſtehen die Häuſer noch ſtellenweiſe dicht zuſammen- gedrängt, ja viele ſchweben, auf Piloten erbaut, über den Waſſern des Hafens, und während unter den Füßen ehrſamer Moslims die ſchwachen Wellen des Meeres plätſchern, ſtreift durch den luftigen Holzbau der kühle Weſtwind, ein wahres Labſal für die ſchlafmüden Korangelehrten, die hier mit Vorliebe in ein weſen- loſes Nichts hinausbrüten … Eine Gedankenloſigkeit bei wachem Geiſte erſcheint uns nachgerade als ein Problem; für den Orien- talen und ſpeciell wieder für den Türken iſt ſie ein vielbegehrtes Glück, dem er nahezu die ganze Tageszeit über obliegt, während er die Arbeit den übrigen zweibeinigen Geſchöpfen, das Regieren dem lieben Herrgott überläßt. Welche Ausſicht eine Wieder- geburt des osmaniſchen Reiches im Sinne einer abendländiſchen politiſchen Freiheit unter dieſem Geſichtspunkte von vornher 1 O. Fraas, „Drei Monate am Labanon“, 51.

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/203>, abgerufen am 22.11.2024.