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Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878.

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Die kaukasische Emigration.
bekleidet und ohne alle Proviantvorräthe, Anfangs vom Bettel,
später von Diebstahl und Raub lebend. Hunderttausend Flüchtlinge
hatten bereits die Blüthengestade von Dschanik zertreten und
immer noch hielten die plumpen russischen Transportschiffe an
den Küstenpunkten, um neue zahllose Candidaten des Hungers
ans Land zu setzen. Da sie ihre eigenen Kinder nicht verzehren
konnten, so ward bald die Stadt Trapezunt selbst, sowie auch
das benachbarte Samsun und Kherasunt vor den gefährlichen,
in jeder Richtung elend herabgekommenen Massen nicht sicher.

Das war der erste Gruß der von der Pforte pomphaft an-
gekündigten Gastfreundschaft. Der ehrenwerthe Gouverneur von
Trapezunt schloß sich im sogenannten Castell ein und ließ zu
seiner persönlichen Sicherheit ein altes rostiges Kanonenrohr, das
seit Paskiewitschs Zeiten im Schloßhofe lag, aus dem Sande
hervorscharren und in eine zur Bresche gewordene Schießscharte
einstellen, um eventuellenfalls Feuer auf seine Schutzbefohlenen
zu geben. Im Grunde war es dem Manne auch ganz und gar
nicht zu verargen, daß er so handelte. Es war die Pflicht der
Pforte, sofort Anstalten für die erste Verpflegung der Emigranten
zu treffen und deren Weiterbeförderung so schleunig wie möglich
anzuordnen, um Massenanhäufungen vorzubeugen. Aber die
russischen Dampfer waren schneller als die Dispositionen der
Stambuler Regierung ... "Jawasch dostler jardümüziz
Allahdan gelur"
1, riefen die Sykophanten am goldenen Horn.
Aber auch Allah scheint sich mit seiner Hilfe nicht zu sehr beeilt
zu haben, denn eines schönen Tages begann der Hungertyphus
seine ersten Opfer zu holen und in wenigen Tagen nahm derselbe
derartige Dimensionen an, daß an einzelnen Tagen oft 400--500
der bedauernswerthen Emigranten demselben erlagen. Die Emi-
gration hatte im Frühjahre begonnen, im Herbste desselben Jahres
war ein Drittel, sage ein Drittel, oder in Ziffern: 100,000
Personen derselben in den schattigen Thälern des Dschanik zur
ewigen Ruhe bestattet. Mit Hunderttausend buchstäblich Ver-
hungerten hatte die Pforte das Freundschaftsbündniß mit den
Heimatlosen besiegelt. Es war eine bittere Erfahrung für die
rechtgläubigen Brüder, aber sie verzweifelten nicht. Waren sie

1 "Langsam, Freunde; Eure Hilfe kommt von Gott!"
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 6

Die kaukaſiſche Emigration.
bekleidet und ohne alle Proviantvorräthe, Anfangs vom Bettel,
ſpäter von Diebſtahl und Raub lebend. Hunderttauſend Flüchtlinge
hatten bereits die Blüthengeſtade von Dſchanik zertreten und
immer noch hielten die plumpen ruſſiſchen Transportſchiffe an
den Küſtenpunkten, um neue zahlloſe Candidaten des Hungers
ans Land zu ſetzen. Da ſie ihre eigenen Kinder nicht verzehren
konnten, ſo ward bald die Stadt Trapezunt ſelbſt, ſowie auch
das benachbarte Samſun und Kheraſunt vor den gefährlichen,
in jeder Richtung elend herabgekommenen Maſſen nicht ſicher.

Das war der erſte Gruß der von der Pforte pomphaft an-
gekündigten Gaſtfreundſchaft. Der ehrenwerthe Gouverneur von
Trapezunt ſchloß ſich im ſogenannten Caſtell ein und ließ zu
ſeiner perſönlichen Sicherheit ein altes roſtiges Kanonenrohr, das
ſeit Paskiewitſchs Zeiten im Schloßhofe lag, aus dem Sande
hervorſcharren und in eine zur Breſche gewordene Schießſcharte
einſtellen, um eventuellenfalls Feuer auf ſeine Schutzbefohlenen
zu geben. Im Grunde war es dem Manne auch ganz und gar
nicht zu verargen, daß er ſo handelte. Es war die Pflicht der
Pforte, ſofort Anſtalten für die erſte Verpflegung der Emigranten
zu treffen und deren Weiterbeförderung ſo ſchleunig wie möglich
anzuordnen, um Maſſenanhäufungen vorzubeugen. Aber die
ruſſiſchen Dampfer waren ſchneller als die Dispoſitionen der
Stambuler Regierung … „Jawasch dostler jardümüziz
Allahdan gelur“
1, riefen die Sykophanten am goldenen Horn.
Aber auch Allah ſcheint ſich mit ſeiner Hilfe nicht zu ſehr beeilt
zu haben, denn eines ſchönen Tages begann der Hungertyphus
ſeine erſten Opfer zu holen und in wenigen Tagen nahm derſelbe
derartige Dimenſionen an, daß an einzelnen Tagen oft 400—500
der bedauernswerthen Emigranten demſelben erlagen. Die Emi-
gration hatte im Frühjahre begonnen, im Herbſte deſſelben Jahres
war ein Drittel, ſage ein Drittel, oder in Ziffern: 100,000
Perſonen derſelben in den ſchattigen Thälern des Dſchanik zur
ewigen Ruhe beſtattet. Mit Hunderttauſend buchſtäblich Ver-
hungerten hatte die Pforte das Freundſchaftsbündniß mit den
Heimatloſen beſiegelt. Es war eine bittere Erfahrung für die
rechtgläubigen Brüder, aber ſie verzweifelten nicht. Waren ſie

1 „Langſam, Freunde; Eure Hilfe kommt von Gott!“
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 6
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[81/0113] Die kaukaſiſche Emigration. bekleidet und ohne alle Proviantvorräthe, Anfangs vom Bettel, ſpäter von Diebſtahl und Raub lebend. Hunderttauſend Flüchtlinge hatten bereits die Blüthengeſtade von Dſchanik zertreten und immer noch hielten die plumpen ruſſiſchen Transportſchiffe an den Küſtenpunkten, um neue zahlloſe Candidaten des Hungers ans Land zu ſetzen. Da ſie ihre eigenen Kinder nicht verzehren konnten, ſo ward bald die Stadt Trapezunt ſelbſt, ſowie auch das benachbarte Samſun und Kheraſunt vor den gefährlichen, in jeder Richtung elend herabgekommenen Maſſen nicht ſicher. Das war der erſte Gruß der von der Pforte pomphaft an- gekündigten Gaſtfreundſchaft. Der ehrenwerthe Gouverneur von Trapezunt ſchloß ſich im ſogenannten Caſtell ein und ließ zu ſeiner perſönlichen Sicherheit ein altes roſtiges Kanonenrohr, das ſeit Paskiewitſchs Zeiten im Schloßhofe lag, aus dem Sande hervorſcharren und in eine zur Breſche gewordene Schießſcharte einſtellen, um eventuellenfalls Feuer auf ſeine Schutzbefohlenen zu geben. Im Grunde war es dem Manne auch ganz und gar nicht zu verargen, daß er ſo handelte. Es war die Pflicht der Pforte, ſofort Anſtalten für die erſte Verpflegung der Emigranten zu treffen und deren Weiterbeförderung ſo ſchleunig wie möglich anzuordnen, um Maſſenanhäufungen vorzubeugen. Aber die ruſſiſchen Dampfer waren ſchneller als die Dispoſitionen der Stambuler Regierung … „Jawasch dostler jardümüziz Allahdan gelur“ 1, riefen die Sykophanten am goldenen Horn. Aber auch Allah ſcheint ſich mit ſeiner Hilfe nicht zu ſehr beeilt zu haben, denn eines ſchönen Tages begann der Hungertyphus ſeine erſten Opfer zu holen und in wenigen Tagen nahm derſelbe derartige Dimenſionen an, daß an einzelnen Tagen oft 400—500 der bedauernswerthen Emigranten demſelben erlagen. Die Emi- gration hatte im Frühjahre begonnen, im Herbſte deſſelben Jahres war ein Drittel, ſage ein Drittel, oder in Ziffern: 100,000 Perſonen derſelben in den ſchattigen Thälern des Dſchanik zur ewigen Ruhe beſtattet. Mit Hunderttauſend buchſtäblich Ver- hungerten hatte die Pforte das Freundſchaftsbündniß mit den Heimatloſen beſiegelt. Es war eine bittere Erfahrung für die rechtgläubigen Brüder, aber ſie verzweifelten nicht. Waren ſie 1 „Langſam, Freunde; Eure Hilfe kommt von Gott!“ Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 6

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Zitationshilfe: Schweiger-Lerchenfeld, Amand von: Armenien. Ein Bild seiner Natur und seiner Bewohner. Jena, 1878, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schweiger_armenien_1878/113>, abgerufen am 22.11.2024.