Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

belauscht hatte, hat uns dieses hinterbracht, und so über¬
raschten wir sie selbst, während sie damit beschäftigt war,
ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir sie,
das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur
Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt seyn
soll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu senden;
aber du sollst ihr auch gebieten, sich Demjenigen zu ver¬
mählen, den ihr Vater auslesen wird, oder den sie sich
selbst erwählt. Wenn sie aber die edlen Griechen noch
länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen
will, so zehren wir auch noch länger von deinem Gute,
und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬
geben uns an den unsrigen, als bis deine Mutter einen
Gatten gewählt hat."

Darauf antwortete Telemach: "Antinous, mit Zwang
kann ich meine Mutter nicht aus dem Hause verstoßen,
sie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein
Vater noch leben oder todt seyn. Weder Ikarion, ihr
Vater, noch die Götter könnten ein solches Verfahren
billigen. Nein, wenn ihr selbst noch Gefühl für Recht
und Unrecht habt, so verlasset mein Haus, und besorget
euch eure Gastmahle anderswo, oder verzehret wenigstens
eure eigene Habe und lasset die Bewirthung im Kreise
herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das
Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererstattung zu
verschlingen -- nun, so thut es! Ich aber werde die
Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬
ten Bezahlung an euch verhelfe!"

Während Telemach so sprach, schickte ihm Jupiter
ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges schweb¬
ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften

belauſcht hatte, hat uns dieſes hinterbracht, und ſo über¬
raſchten wir ſie ſelbſt, während ſie damit beſchäftigt war,
ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir ſie,
das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur
Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt ſeyn
ſoll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu ſenden;
aber du ſollſt ihr auch gebieten, ſich Demjenigen zu ver¬
mählen, den ihr Vater ausleſen wird, oder den ſie ſich
ſelbſt erwählt. Wenn ſie aber die edlen Griechen noch
länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen
will, ſo zehren wir auch noch länger von deinem Gute,
und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬
geben uns an den unſrigen, als bis deine Mutter einen
Gatten gewählt hat.“

Darauf antwortete Telemach: „Antinous, mit Zwang
kann ich meine Mutter nicht aus dem Hauſe verſtoßen,
ſie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein
Vater noch leben oder todt ſeyn. Weder Ikarion, ihr
Vater, noch die Götter könnten ein ſolches Verfahren
billigen. Nein, wenn ihr ſelbſt noch Gefühl für Recht
und Unrecht habt, ſo verlaſſet mein Haus, und beſorget
euch eure Gaſtmahle anderswo, oder verzehret wenigſtens
eure eigene Habe und laſſet die Bewirthung im Kreiſe
herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das
Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererſtattung zu
verſchlingen — nun, ſo thut es! Ich aber werde die
Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬
ten Bezahlung an euch verhelfe!“

Während Telemach ſo ſprach, ſchickte ihm Jupiter
ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges ſchweb¬
ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0099" n="77"/>
belau&#x017F;cht hatte, hat uns die&#x017F;es hinterbracht, und &#x017F;o über¬<lb/>
ra&#x017F;chten wir &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t, während &#x017F;ie damit be&#x017F;chäftigt war,<lb/>
ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir &#x017F;ie,<lb/>
das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur<lb/>
Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;oll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu &#x017F;enden;<lb/>
aber du &#x017F;oll&#x017F;t ihr auch gebieten, &#x017F;ich Demjenigen zu ver¬<lb/>
mählen, den ihr Vater ausle&#x017F;en wird, oder den &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t erwählt. Wenn &#x017F;ie aber die edlen Griechen noch<lb/>
länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen<lb/>
will, &#x017F;o zehren wir auch noch länger von deinem Gute,<lb/>
und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬<lb/>
geben uns an den un&#x017F;rigen, als bis deine Mutter einen<lb/>
Gatten gewählt hat.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Darauf antwortete Telemach: &#x201E;Antinous, mit Zwang<lb/>
kann ich meine Mutter nicht aus dem Hau&#x017F;e ver&#x017F;toßen,<lb/>
&#x017F;ie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein<lb/>
Vater noch leben oder todt &#x017F;eyn. Weder Ikarion, ihr<lb/>
Vater, noch die Götter könnten ein &#x017F;olches Verfahren<lb/>
billigen. Nein, wenn ihr &#x017F;elb&#x017F;t noch Gefühl für Recht<lb/>
und Unrecht habt, &#x017F;o verla&#x017F;&#x017F;et mein Haus, und be&#x017F;orget<lb/>
euch eure Ga&#x017F;tmahle anderswo, oder verzehret wenig&#x017F;tens<lb/>
eure eigene Habe und la&#x017F;&#x017F;et die Bewirthung im Krei&#x017F;e<lb/>
herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das<lb/>
Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiederer&#x017F;tattung zu<lb/>
ver&#x017F;chlingen &#x2014; nun, &#x017F;o thut es! Ich aber werde die<lb/>
Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬<lb/>
ten Bezahlung an euch verhelfe!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Während Telemach &#x017F;o &#x017F;prach, &#x017F;chickte ihm Jupiter<lb/>
ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges &#x017F;chweb¬<lb/>
ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0099] belauſcht hatte, hat uns dieſes hinterbracht, und ſo über¬ raſchten wir ſie ſelbſt, während ſie damit beſchäftigt war, ihr Gewebe zu zertrennen. Darauf nöthigten wir ſie, das Werk zu vollenden. So geben wir dir denn zur Antwort, Telemachus, daß dir allerdings vergönnt ſeyn ſoll, die Mutter hinweg und zu ihrem Vater zu ſenden; aber du ſollſt ihr auch gebieten, ſich Demjenigen zu ver¬ mählen, den ihr Vater ausleſen wird, oder den ſie ſich ſelbſt erwählt. Wenn ſie aber die edlen Griechen noch länger verhöhnt, und mit ihrem Truggewebe betrügen will, ſo zehren wir auch noch länger von deinem Gute, und nicht eher weichen wir von deinem Heerde und be¬ geben uns an den unſrigen, als bis deine Mutter einen Gatten gewählt hat.“ Darauf antwortete Telemach: „Antinous, mit Zwang kann ich meine Mutter nicht aus dem Hauſe verſtoßen, ſie, die mich geboren und erzogen hat, mag nun mein Vater noch leben oder todt ſeyn. Weder Ikarion, ihr Vater, noch die Götter könnten ein ſolches Verfahren billigen. Nein, wenn ihr ſelbſt noch Gefühl für Recht und Unrecht habt, ſo verlaſſet mein Haus, und beſorget euch eure Gaſtmahle anderswo, oder verzehret wenigſtens eure eigene Habe und laſſet die Bewirthung im Kreiſe herumgehen. Wenn es euch aber behaglicher dünkt, das Erbe eines einzelnen Mannes ohne Wiedererſtattung zu verſchlingen — nun, ſo thut es! Ich aber werde die Ewigen laut anflehen, daß mir Jupiter zur wohlverdien¬ ten Bezahlung an euch verhelfe!“ Während Telemach ſo ſprach, ſchickte ihm Jupiter ein Himmelszeichen. Zwei Adler des Gebirges ſchweb¬ ten mit ausgebreiteten Schwingen herab aus den Lüften

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/99
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/99>, abgerufen am 21.11.2024.