darauf traten auch einer um den andern die Freier ein, und setzten sich alle auf stattliche Lehnsessel; die Herolde besprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher bis zum Rand, und sie machten sich, als kämen sie nicht eben vom Schmause, über das leckere Mahl her. Dann gelüstete sie nach Reigentanz und Gesang, der Herold reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und dieser, von den trotzigen Freiern gezwungen, schlug die Saiten an und begann den herzerfreuenden Gesang.
Während nun diese dem Liede horchten, neigte Telemach sein Haupt nahe an das seines Gastes und flüsterte der verwandelten Göttin in's Ohr: "Wirst du mir, lieber Gastfreund, was ich dir sage, nicht verargen? Siehst du, wie diese Menschen hier fremdes Gut ohne Ersatz verprassen? das Gut meines Vaters, dessen Ge¬ bein vielleicht am Meeresstrand im Regen modert, oder auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl nicht wieder heim, sie zu strafen! -- Aber du sage mir, edler Fremdling, wer bist du, wo hausest du, wo deine Eltern? Bist du vielleicht schon vom Vater her unser Gastfreund?" -- "Ich bin," erwiederte Minerva, "Men¬ tes, der Sohn des Anchialus, und beherrsche die Insel Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temesa Erz gegen Eisen einzutauschen. Frage deinen Großvater Laertes, den Greis, der, wie man sagt, ferne von der Stadt, in Kummer auf dem Lande sich abhärmt: er wird dir sagen, daß unsere Häuser seit der Altväter Zeiten in Gastfreundschaft mit einander leben. Ich kam, weil ich glaubte, dein Vater sey wieder daheim. Dem ist nun freilich nicht so; aber doch lebt er gewiß noch;
darauf traten auch einer um den andern die Freier ein, und ſetzten ſich alle auf ſtattliche Lehnſeſſel; die Herolde beſprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher bis zum Rand, und ſie machten ſich, als kämen ſie nicht eben vom Schmauſe, über das leckere Mahl her. Dann gelüſtete ſie nach Reigentanz und Geſang, der Herold reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und dieſer, von den trotzigen Freiern gezwungen, ſchlug die Saiten an und begann den herzerfreuenden Geſang.
Während nun dieſe dem Liede horchten, neigte Telemach ſein Haupt nahe an das ſeines Gaſtes und flüſterte der verwandelten Göttin in's Ohr: „Wirſt du mir, lieber Gaſtfreund, was ich dir ſage, nicht verargen? Siehſt du, wie dieſe Menſchen hier fremdes Gut ohne Erſatz verpraſſen? das Gut meines Vaters, deſſen Ge¬ bein vielleicht am Meeresſtrand im Regen modert, oder auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl nicht wieder heim, ſie zu ſtrafen! — Aber du ſage mir, edler Fremdling, wer biſt du, wo hauſeſt du, wo deine Eltern? Biſt du vielleicht ſchon vom Vater her unſer Gaſtfreund?“ — „Ich bin,“ erwiederte Minerva, „Men¬ tes, der Sohn des Anchialus, und beherrſche die Inſel Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temeſa Erz gegen Eiſen einzutauſchen. Frage deinen Großvater Laertes, den Greis, der, wie man ſagt, ferne von der Stadt, in Kummer auf dem Lande ſich abhärmt: er wird dir ſagen, daß unſere Häuſer ſeit der Altväter Zeiten in Gaſtfreundſchaft mit einander leben. Ich kam, weil ich glaubte, dein Vater ſey wieder daheim. Dem iſt nun freilich nicht ſo; aber doch lebt er gewiß noch;
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0092"n="70"/>
darauf traten auch einer um den andern die Freier ein,<lb/>
und ſetzten ſich alle auf ſtattliche Lehnſeſſel; die Herolde<lb/>
beſprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen<lb/>
Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher<lb/>
bis zum Rand, und ſie machten ſich, als kämen ſie nicht<lb/>
eben vom Schmauſe, über das leckere Mahl her. Dann<lb/>
gelüſtete ſie nach Reigentanz und Geſang, der Herold<lb/>
reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und<lb/>
dieſer, von den trotzigen Freiern gezwungen, ſchlug die<lb/>
Saiten an und begann den herzerfreuenden Geſang.</p><lb/><p>Während nun dieſe dem Liede horchten, neigte<lb/>
Telemach ſein Haupt nahe an das ſeines Gaſtes und<lb/>
flüſterte der verwandelten Göttin in's Ohr: „Wirſt du<lb/>
mir, lieber Gaſtfreund, was ich dir ſage, nicht verargen?<lb/>
Siehſt du, wie dieſe Menſchen hier fremdes Gut ohne<lb/>
Erſatz verpraſſen? das Gut meines Vaters, deſſen Ge¬<lb/>
bein vielleicht am Meeresſtrand im Regen modert, oder<lb/>
auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl<lb/>
nicht wieder heim, ſie zu ſtrafen! — Aber du ſage mir,<lb/>
edler Fremdling, wer biſt du, wo hauſeſt du, wo deine<lb/>
Eltern? Biſt du vielleicht ſchon vom Vater her unſer<lb/>
Gaſtfreund?“—„Ich bin,“ erwiederte Minerva, „Men¬<lb/>
tes, der Sohn des Anchialus, und beherrſche die Inſel<lb/>
Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temeſa Erz<lb/>
gegen Eiſen einzutauſchen. Frage deinen Großvater<lb/>
Laertes, den Greis, der, wie man ſagt, ferne von der<lb/>
Stadt, in Kummer auf dem Lande ſich abhärmt: er<lb/>
wird dir ſagen, daß unſere Häuſer ſeit der Altväter<lb/>
Zeiten in Gaſtfreundſchaft mit einander leben. Ich kam,<lb/>
weil ich glaubte, dein Vater ſey wieder daheim. Dem<lb/>
iſt nun freilich nicht ſo; aber doch lebt er gewiß noch;<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[70/0092]
darauf traten auch einer um den andern die Freier ein,
und ſetzten ſich alle auf ſtattliche Lehnſeſſel; die Herolde
beſprengten ihnen die Hände, die Mägde reichten ihnen
Brod in Körben, die Diener füllten ihnen den Becher
bis zum Rand, und ſie machten ſich, als kämen ſie nicht
eben vom Schmauſe, über das leckere Mahl her. Dann
gelüſtete ſie nach Reigentanz und Geſang, der Herold
reichte dem Sänger Phemius die zierliche Harfe, und
dieſer, von den trotzigen Freiern gezwungen, ſchlug die
Saiten an und begann den herzerfreuenden Geſang.
Während nun dieſe dem Liede horchten, neigte
Telemach ſein Haupt nahe an das ſeines Gaſtes und
flüſterte der verwandelten Göttin in's Ohr: „Wirſt du
mir, lieber Gaſtfreund, was ich dir ſage, nicht verargen?
Siehſt du, wie dieſe Menſchen hier fremdes Gut ohne
Erſatz verpraſſen? das Gut meines Vaters, deſſen Ge¬
bein vielleicht am Meeresſtrand im Regen modert, oder
auf den Wellen umhergetrieben wird? Er kommt wohl
nicht wieder heim, ſie zu ſtrafen! — Aber du ſage mir,
edler Fremdling, wer biſt du, wo hauſeſt du, wo deine
Eltern? Biſt du vielleicht ſchon vom Vater her unſer
Gaſtfreund?“ — „Ich bin,“ erwiederte Minerva, „Men¬
tes, der Sohn des Anchialus, und beherrſche die Inſel
Taphos; ich kam zu Schiffe hierher um in Temeſa Erz
gegen Eiſen einzutauſchen. Frage deinen Großvater
Laertes, den Greis, der, wie man ſagt, ferne von der
Stadt, in Kummer auf dem Lande ſich abhärmt: er
wird dir ſagen, daß unſere Häuſer ſeit der Altväter
Zeiten in Gaſtfreundſchaft mit einander leben. Ich kam,
weil ich glaubte, dein Vater ſey wieder daheim. Dem
iſt nun freilich nicht ſo; aber doch lebt er gewiß noch;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/92>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.