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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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Rettung ihres geliebten Bruders im Geiste beschäftigt,
und zuletzt hatte sich ihr ein glücklicher Gedanke dar¬
geboten. "Ich habe," rief sie, "endlich, dünkt mir,
den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das sich
bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal
regte, soll mir zum Vorwande bei dem König dienen.
Du kommest, sage ich ihm, wie denn dieß die Wahrheit
ist, als Muttermörder von Argos. Deßwegen seyest du
unrein und noch nicht entsündiget, um als angenehmes
Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erst müsse
ein Wasserbad im Meere die Blutspur abwaschen, welche
deinem Leibe noch von dem entsetzlichen Mord anklebe.
Und weil du, im Tempel der Göttin dargestellt, ihr
Bild als Schutzflehender berührt habest, so sey auch dieses
verunreinigt worden, und bedürfe einer Reinigung in der
Meeresfluth. Da nun mir, der Priesterin, allein ver¬
gönnt ist, das heilige Bildniß zu berühren, so trage ich
selbst dasselbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung
(denn auch dich, Pylades, nenne ich als Theilhaber der
Blutschuld, wie du es denn auch in der That warest)
an den Meeresstrand, dort wo euer Schiff in der Bucht
versteckt vor Anker liegt. Dieß Alles soll durch Ueber¬
redung des Königes geschehen, denn hintergehen ließe sich
der Wachsame nicht. Das weitre Gelingen des Planes,
wenn wir einmal am Schiff angekommen sind, ist eure
Sache, ihr Freunde!"

Dieß Alles war zwischen den Geschwistern und ih¬
rem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden,
ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die
Gefangenen den Aufsehern wieder übergeben und Iphi¬
genia führte sie in das Innere des Tempels. Nicht lange

Rettung ihres geliebten Bruders im Geiſte beſchäftigt,
und zuletzt hatte ſich ihr ein glücklicher Gedanke dar¬
geboten. „Ich habe,“ rief ſie, „endlich, dünkt mir,
den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das ſich
bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal
regte, ſoll mir zum Vorwande bei dem König dienen.
Du kommeſt, ſage ich ihm, wie denn dieß die Wahrheit
iſt, als Muttermörder von Argos. Deßwegen ſeyeſt du
unrein und noch nicht entſündiget, um als angenehmes
Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erſt müſſe
ein Waſſerbad im Meere die Blutſpur abwaſchen, welche
deinem Leibe noch von dem entſetzlichen Mord anklebe.
Und weil du, im Tempel der Göttin dargeſtellt, ihr
Bild als Schutzflehender berührt habeſt, ſo ſey auch dieſes
verunreinigt worden, und bedürfe einer Reinigung in der
Meeresfluth. Da nun mir, der Prieſterin, allein ver¬
gönnt iſt, das heilige Bildniß zu berühren, ſo trage ich
ſelbſt daſſelbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung
(denn auch dich, Pylades, nenne ich als Theilhaber der
Blutſchuld, wie du es denn auch in der That wareſt)
an den Meeresſtrand, dort wo euer Schiff in der Bucht
verſteckt vor Anker liegt. Dieß Alles ſoll durch Ueber¬
redung des Königes geſchehen, denn hintergehen ließe ſich
der Wachſame nicht. Das weitre Gelingen des Planes,
wenn wir einmal am Schiff angekommen ſind, iſt eure
Sache, ihr Freunde!“

Dieß Alles war zwiſchen den Geſchwiſtern und ih¬
rem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden,
ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die
Gefangenen den Aufſehern wieder übergeben und Iphi¬
genia führte ſie in das Innere des Tempels. Nicht lange

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[56/0078] Rettung ihres geliebten Bruders im Geiſte beſchäftigt, und zuletzt hatte ſich ihr ein glücklicher Gedanke dar¬ geboten. „Ich habe,“ rief ſie, „endlich, dünkt mir, den rechten Weg erdacht. Dein Seelenleiden, das ſich bei eurer Gefangennehmung am Strande noch einmal regte, ſoll mir zum Vorwande bei dem König dienen. Du kommeſt, ſage ich ihm, wie denn dieß die Wahrheit iſt, als Muttermörder von Argos. Deßwegen ſeyeſt du unrein und noch nicht entſündiget, um als angenehmes Opfer der Göttin dargebracht zu werden. Erſt müſſe ein Waſſerbad im Meere die Blutſpur abwaſchen, welche deinem Leibe noch von dem entſetzlichen Mord anklebe. Und weil du, im Tempel der Göttin dargeſtellt, ihr Bild als Schutzflehender berührt habeſt, ſo ſey auch dieſes verunreinigt worden, und bedürfe einer Reinigung in der Meeresfluth. Da nun mir, der Prieſterin, allein ver¬ gönnt iſt, das heilige Bildniß zu berühren, ſo trage ich ſelbſt daſſelbe auf meinen Armen und in eurer Begleitung (denn auch dich, Pylades, nenne ich als Theilhaber der Blutſchuld, wie du es denn auch in der That wareſt) an den Meeresſtrand, dort wo euer Schiff in der Bucht verſteckt vor Anker liegt. Dieß Alles ſoll durch Ueber¬ redung des Königes geſchehen, denn hintergehen ließe ſich der Wachſame nicht. Das weitre Gelingen des Planes, wenn wir einmal am Schiff angekommen ſind, iſt eure Sache, ihr Freunde!“ Dieß Alles war zwiſchen den Geſchwiſtern und ih¬ rem Freund im Vorhofe des Tempels verhandelt worden, ferne von den Dienern und Wachen. Jetzt wurden die Gefangenen den Aufſehern wieder übergeben und Iphi¬ genia führte ſie in das Innere des Tempels. Nicht lange

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/78>, abgerufen am 21.11.2024.