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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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abgestimmt hatten, traten auserlesene, durch einen Eid
verpflichtete Bürger hinzu und zählten die schwarzen und
die weißen Steine ab. Da befand es sich, daß die Zahl
beider gleich war, und die Entscheidung der vorsitzenden
Göttin zukam, wie sie sich im Beginne des Gerichtes
dieselbe vorbehalten hatte. Athene stand abermals von
ihrem Sitze auf und sprach: "Ich bin von keiner Mut¬
ter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Ju¬
piter und aus seiner Stirne entsprungen, eine männliche
Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne
Beschützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite
des Weibes treten, das seinen Ehegatten freventlich er¬
schlagen hat, dem schnöden Buhlen zu gefallen. Nach
meines Herzens Meinung hat Orestes wohl gethan, er
hat nicht die Mutter umgebracht, sondern die Mörderin
des Vaters. Er siege!" Damit verließ sie den Rich¬
terstuhl, ergriff einen weißen Stimmstein und fügte ihn
den andern weißen Steinen hinzu. "Dieser Mann," sprach
sie sodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, "ist
durch Stimmenmehrzahl von dem Vorwurf ungerechten
Mordes freigesprochen!"

Als das Urtheil gefällt war, bat Orestes die Göt¬
tin um das Wort und sprach in tiefer Bewegung seines
Herzens: "O Pallas Athene, die du mein Geschlecht
und mich des Vaterlands Beraubten gerettet hast, in
ganz Griechenland wird man deine Wohlthat preisen
und sagen: So wohnet denn jener Argiver wieder in
der Väter Pallast, erhalten durch die Gerechtigkeit Mi¬
nerva's, und Apollo's, und des Göttervaters, ohne
dessen Willen auch das nicht geschehen wäre. Ich aber
ziehe heim, diesem Land und Volke schwörend, daß für

abgeſtimmt hatten, traten auserleſene, durch einen Eid
verpflichtete Bürger hinzu und zählten die ſchwarzen und
die weißen Steine ab. Da befand es ſich, daß die Zahl
beider gleich war, und die Entſcheidung der vorſitzenden
Göttin zukam, wie ſie ſich im Beginne des Gerichtes
dieſelbe vorbehalten hatte. Athene ſtand abermals von
ihrem Sitze auf und ſprach: „Ich bin von keiner Mut¬
ter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Ju¬
piter und aus ſeiner Stirne entſprungen, eine männliche
Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne
Beſchützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite
des Weibes treten, das ſeinen Ehegatten freventlich er¬
ſchlagen hat, dem ſchnöden Buhlen zu gefallen. Nach
meines Herzens Meinung hat Oreſtes wohl gethan, er
hat nicht die Mutter umgebracht, ſondern die Mörderin
des Vaters. Er ſiege!“ Damit verließ ſie den Rich¬
terſtuhl, ergriff einen weißen Stimmſtein und fügte ihn
den andern weißen Steinen hinzu. „Dieſer Mann,“ ſprach
ſie ſodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, „iſt
durch Stimmenmehrzahl von dem Vorwurf ungerechten
Mordes freigeſprochen!“

Als das Urtheil gefällt war, bat Oreſtes die Göt¬
tin um das Wort und ſprach in tiefer Bewegung ſeines
Herzens: „O Pallas Athene, die du mein Geſchlecht
und mich des Vaterlands Beraubten gerettet haſt, in
ganz Griechenland wird man deine Wohlthat preiſen
und ſagen: So wohnet denn jener Argiver wieder in
der Väter Pallaſt, erhalten durch die Gerechtigkeit Mi¬
nerva's, und Apollo's, und des Göttervaters, ohne
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[40/0062] abgeſtimmt hatten, traten auserleſene, durch einen Eid verpflichtete Bürger hinzu und zählten die ſchwarzen und die weißen Steine ab. Da befand es ſich, daß die Zahl beider gleich war, und die Entſcheidung der vorſitzenden Göttin zukam, wie ſie ſich im Beginne des Gerichtes dieſelbe vorbehalten hatte. Athene ſtand abermals von ihrem Sitze auf und ſprach: „Ich bin von keiner Mut¬ ter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Ju¬ piter und aus ſeiner Stirne entſprungen, eine männliche Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne Beſchützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite des Weibes treten, das ſeinen Ehegatten freventlich er¬ ſchlagen hat, dem ſchnöden Buhlen zu gefallen. Nach meines Herzens Meinung hat Oreſtes wohl gethan, er hat nicht die Mutter umgebracht, ſondern die Mörderin des Vaters. Er ſiege!“ Damit verließ ſie den Rich¬ terſtuhl, ergriff einen weißen Stimmſtein und fügte ihn den andern weißen Steinen hinzu. „Dieſer Mann,“ ſprach ſie ſodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, „iſt durch Stimmenmehrzahl von dem Vorwurf ungerechten Mordes freigeſprochen!“ Als das Urtheil gefällt war, bat Oreſtes die Göt¬ tin um das Wort und ſprach in tiefer Bewegung ſeines Herzens: „O Pallas Athene, die du mein Geſchlecht und mich des Vaterlands Beraubten gerettet haſt, in ganz Griechenland wird man deine Wohlthat preiſen und ſagen: So wohnet denn jener Argiver wieder in der Väter Pallaſt, erhalten durch die Gerechtigkeit Mi¬ nerva's, und Apollo's, und des Göttervaters, ohne deſſen Willen auch das nicht geſchehen wäre. Ich aber ziehe heim, dieſem Land und Volke ſchwörend, daß für

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/62>, abgerufen am 24.11.2024.