meiner jetzt, haltet den Speer des Gegners fest!" Die Lan¬ desgötter hörten den Flehenden, und Aeneas bemühte sich vergebens, die Lanze aus dem festzusammenhaltenden Holze des zähen Stammes herauszuziehen. Während sich nun der Held hitzig anstemmte und abquälte, rannte die Schwester des Turnus, die Nymphe Juturna, wieder in die Gestalt seines Wagenlenkers Metiskus verwandelt, vor und händigte ihrem Bruder sein rechtes, gefeietes Schwert ein. Ve¬ nus aber, entrüstet, daß einer gewöhnlichen Nymphe ein so kühnes Werk erlaubt seyn sollte, trat auch herbei und half dem Aeneas den Speer aus der tiefen Wurzel hervorziehen.
Nun waren beide Kämpfer mit frischen Waffen ver¬ sehen und von neuem Muthe beseelt; beide richteten sich in die Höhe, der eine schwang sein Schwert, der andere bäumte sich mit dem Speer, und so standen sie mit flie¬ gendem Athem einander zum letzten Kampfe gegenüber. Da sprach Jupiter, der aus dem goldenen Gewölke des Olymp dem Streite zusah, zu seiner Gemahlin Juno: "Endigen wir endlich diesen Krieg! Du weißest und be¬ kennest es ja selbst, daß Aeneas vom Geschicke dem Him¬ mel bestimmt sey! Wozu steifest du nun seinen Feind und gibst ihm durch Juturna sein Schwert wieder in die Hand? Du hast die Trojaner über Land und Meer verfolgt, den Krieg entzündet, den Palast in Trauer versenkt, das Brautfest durch Jammer gestört. Weitere Versuche verbiet' ich dir!" Juno antwortete dem zürnenden Gemahl mit gesenktem Antlitz: "Wider Wil¬ len habe ich, weil dein Befehl mir heilig war, die Erde und den Turnus verlassen. Hätte ich dir nicht gehor¬ chen wollen, so würdest du mich jetzt nicht hier in den
meiner jetzt, haltet den Speer des Gegners feſt!“ Die Lan¬ desgötter hörten den Flehenden, und Aeneas bemühte ſich vergebens, die Lanze aus dem feſtzuſammenhaltenden Holze des zähen Stammes herauszuziehen. Während ſich nun der Held hitzig anſtemmte und abquälte, rannte die Schweſter des Turnus, die Nymphe Juturna, wieder in die Geſtalt ſeines Wagenlenkers Metiſkus verwandelt, vor und händigte ihrem Bruder ſein rechtes, gefeietes Schwert ein. Ve¬ nus aber, entrüſtet, daß einer gewöhnlichen Nymphe ein ſo kühnes Werk erlaubt ſeyn ſollte, trat auch herbei und half dem Aeneas den Speer aus der tiefen Wurzel hervorziehen.
Nun waren beide Kämpfer mit friſchen Waffen ver¬ ſehen und von neuem Muthe beſeelt; beide richteten ſich in die Höhe, der eine ſchwang ſein Schwert, der andere bäumte ſich mit dem Speer, und ſo ſtanden ſie mit flie¬ gendem Athem einander zum letzten Kampfe gegenüber. Da ſprach Jupiter, der aus dem goldenen Gewölke des Olymp dem Streite zuſah, zu ſeiner Gemahlin Juno: „Endigen wir endlich dieſen Krieg! Du weißeſt und be¬ kenneſt es ja ſelbſt, daß Aeneas vom Geſchicke dem Him¬ mel beſtimmt ſey! Wozu ſteifeſt du nun ſeinen Feind und gibſt ihm durch Juturna ſein Schwert wieder in die Hand? Du haſt die Trojaner über Land und Meer verfolgt, den Krieg entzündet, den Palaſt in Trauer verſenkt, das Brautfeſt durch Jammer geſtört. Weitere Verſuche verbiet' ich dir!“ Juno antwortete dem zürnenden Gemahl mit geſenktem Antlitz: „Wider Wil¬ len habe ich, weil dein Befehl mir heilig war, die Erde und den Turnus verlaſſen. Hätte ich dir nicht gehor¬ chen wollen, ſo würdeſt du mich jetzt nicht hier in den
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meiner jetzt, haltet den Speer des Gegners feſt!“ Die Lan¬
desgötter hörten den Flehenden, und Aeneas bemühte ſich
vergebens, die Lanze aus dem feſtzuſammenhaltenden Holze
des zähen Stammes herauszuziehen. Während ſich nun der
Held hitzig anſtemmte und abquälte, rannte die Schweſter des
Turnus, die Nymphe Juturna, wieder in die Geſtalt ſeines
Wagenlenkers Metiſkus verwandelt, vor und händigte
ihrem Bruder ſein rechtes, gefeietes Schwert ein. Ve¬
nus aber, entrüſtet, daß einer gewöhnlichen Nymphe
ein ſo kühnes Werk erlaubt ſeyn ſollte, trat auch herbei
und half dem Aeneas den Speer aus der tiefen Wurzel
hervorziehen.
Nun waren beide Kämpfer mit friſchen Waffen ver¬
ſehen und von neuem Muthe beſeelt; beide richteten ſich
in die Höhe, der eine ſchwang ſein Schwert, der andere
bäumte ſich mit dem Speer, und ſo ſtanden ſie mit flie¬
gendem Athem einander zum letzten Kampfe gegenüber.
Da ſprach Jupiter, der aus dem goldenen Gewölke des
Olymp dem Streite zuſah, zu ſeiner Gemahlin Juno:
„Endigen wir endlich dieſen Krieg! Du weißeſt und be¬
kenneſt es ja ſelbſt, daß Aeneas vom Geſchicke dem Him¬
mel beſtimmt ſey! Wozu ſteifeſt du nun ſeinen Feind
und gibſt ihm durch Juturna ſein Schwert wieder
in die Hand? Du haſt die Trojaner über Land
und Meer verfolgt, den Krieg entzündet, den Palaſt in
Trauer verſenkt, das Brautfeſt durch Jammer geſtört.
Weitere Verſuche verbiet' ich dir!“ Juno antwortete dem
zürnenden Gemahl mit geſenktem Antlitz: „Wider Wil¬
len habe ich, weil dein Befehl mir heilig war, die Erde
und den Turnus verlaſſen. Hätte ich dir nicht gehor¬
chen wollen, ſo würdeſt du mich jetzt nicht hier in den
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/458>, abgerufen am 22.11.2024.
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