Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

beiden Jünglinge, oder wurden in schmählicher Flucht
zum offenen Thore hinausgetrieben.

Jetzt wagten die Trojaner, sich schon in dichtern
Schaaren zusammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬
menge entspann sich, und die Rutuler wurden rückwärts
gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite
stritt, die Nachricht von dieser neuen Wendung des
Kampfes erhielt, stürzte er, von gräßlichem Zorne ge¬
spornt, mit einer auserlesenen Schaar von Kriegern her¬
bei, und warf sich über eine Bahn von trojanischen
Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige
Lanze aus der Ferne geschleudert, durchbohrte den Bithias,
daß der Boden von seinen fallenden Riesengliedern bebte,
und der Schild auf den Liegenden herniederrasselte. Die
Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten
sich die siegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit
einem Blick auf die ausgestreckte Leiche seines Bruders,
die Thorflügel in ihren Angeln, und warf sie, mit den
Schultern angestemmt, in die Wölbung zurück, daß das
Thor verschlossen war, und viele Trojaner im Gefechte
draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬
rückblieben. Aber der Unbesonnene hatte nicht bedacht,
daß mitten unter den Eingeschlossenen Turnus selbst sich
befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelassen ist.
Voll Entsetzens erkannten die Trojaner das schreckliche
Gesicht und die riesigen Glieder. Nur Pandarus, ein
Riese wie er, erschrack nicht. Voll Erbitterung über
die Ermordung seines Bruders, stellte er sich ihm ent¬
gegen und rief: "Hier bist du nicht im Palaste der
Schwiegermutter, schmachtender Bräutigam, im Feindes¬
lager stehst du, und wirst nicht wieder hinauskommen!"

Schwab, das klass. Alterthum III., 25

beiden Jünglinge, oder wurden in ſchmählicher Flucht
zum offenen Thore hinausgetrieben.

Jetzt wagten die Trojaner, ſich ſchon in dichtern
Schaaren zuſammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬
menge entſpann ſich, und die Rutuler wurden rückwärts
gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite
ſtritt, die Nachricht von dieſer neuen Wendung des
Kampfes erhielt, ſtürzte er, von gräßlichem Zorne ge¬
ſpornt, mit einer auserleſenen Schaar von Kriegern her¬
bei, und warf ſich über eine Bahn von trojaniſchen
Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige
Lanze aus der Ferne geſchleudert, durchbohrte den Bithias,
daß der Boden von ſeinen fallenden Rieſengliedern bebte,
und der Schild auf den Liegenden herniederraſſelte. Die
Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten
ſich die ſiegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit
einem Blick auf die ausgeſtreckte Leiche ſeines Bruders,
die Thorflügel in ihren Angeln, und warf ſie, mit den
Schultern angeſtemmt, in die Wölbung zurück, daß das
Thor verſchloſſen war, und viele Trojaner im Gefechte
draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬
rückblieben. Aber der Unbeſonnene hatte nicht bedacht,
daß mitten unter den Eingeſchloſſenen Turnus ſelbſt ſich
befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelaſſen iſt.
Voll Entſetzens erkannten die Trojaner das ſchreckliche
Geſicht und die rieſigen Glieder. Nur Pandarus, ein
Rieſe wie er, erſchrack nicht. Voll Erbitterung über
die Ermordung ſeines Bruders, ſtellte er ſich ihm ent¬
gegen und rief: „Hier biſt du nicht im Palaſte der
Schwiegermutter, ſchmachtender Bräutigam, im Feindes¬
lager ſtehſt du, und wirſt nicht wieder hinauskommen!“

Schwab, das klaſſ. Alterthum III., 25
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0407" n="385"/>
beiden Jünglinge, oder wurden in &#x017F;chmählicher Flucht<lb/>
zum offenen Thore hinausgetrieben.</p><lb/>
            <p>Jetzt wagten die Trojaner, &#x017F;ich &#x017F;chon in dichtern<lb/>
Schaaren zu&#x017F;ammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬<lb/>
menge ent&#x017F;pann &#x017F;ich, und die Rutuler wurden rückwärts<lb/>
gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite<lb/>
&#x017F;tritt, die Nachricht von die&#x017F;er neuen Wendung des<lb/>
Kampfes erhielt, &#x017F;türzte er, von gräßlichem Zorne ge¬<lb/>
&#x017F;pornt, mit einer auserle&#x017F;enen Schaar von Kriegern her¬<lb/>
bei, und warf &#x017F;ich über eine Bahn von trojani&#x017F;chen<lb/>
Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige<lb/>
Lanze aus der Ferne ge&#x017F;chleudert, durchbohrte den Bithias,<lb/>
daß der Boden von &#x017F;einen fallenden Rie&#x017F;engliedern bebte,<lb/>
und der Schild auf den Liegenden herniederra&#x017F;&#x017F;elte. Die<lb/>
Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten<lb/>
&#x017F;ich die &#x017F;iegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit<lb/>
einem Blick auf die ausge&#x017F;treckte Leiche &#x017F;eines Bruders,<lb/>
die Thorflügel in ihren Angeln, und warf &#x017F;ie, mit den<lb/>
Schultern ange&#x017F;temmt, in die Wölbung zurück, daß das<lb/>
Thor ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en war, und viele Trojaner im Gefechte<lb/>
draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬<lb/>
rückblieben. Aber der Unbe&#x017F;onnene hatte nicht bedacht,<lb/>
daß mitten unter den Einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Turnus &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich<lb/>
befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingela&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t.<lb/>
Voll Ent&#x017F;etzens erkannten die Trojaner das &#x017F;chreckliche<lb/>
Ge&#x017F;icht und die rie&#x017F;igen Glieder. Nur Pandarus, ein<lb/>
Rie&#x017F;e wie er, er&#x017F;chrack nicht. Voll Erbitterung über<lb/>
die Ermordung &#x017F;eines Bruders, &#x017F;tellte er &#x017F;ich ihm ent¬<lb/>
gegen und rief: &#x201E;Hier bi&#x017F;t du nicht im Pala&#x017F;te der<lb/>
Schwiegermutter, &#x017F;chmachtender Bräutigam, im Feindes¬<lb/>
lager &#x017F;teh&#x017F;t du, und wir&#x017F;t nicht wieder hinauskommen!&#x201C;<lb/>
<fw type="sig" place="bottom"><hi rendition="#g">Schwab</hi>, das kla&#x017F;&#x017F;. Alterthum <hi rendition="#aq">III</hi>., 25<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[385/0407] beiden Jünglinge, oder wurden in ſchmählicher Flucht zum offenen Thore hinausgetrieben. Jetzt wagten die Trojaner, ſich ſchon in dichtern Schaaren zuſammenzurotten, ein regelmäßigeres Handge¬ menge entſpann ſich, und die Rutuler wurden rückwärts gedrängt. Als Turnus, der auf einer andern Seite ſtritt, die Nachricht von dieſer neuen Wendung des Kampfes erhielt, ſtürzte er, von gräßlichem Zorne ge¬ ſpornt, mit einer auserleſenen Schaar von Kriegern her¬ bei, und warf ſich über eine Bahn von trojaniſchen Leichen auf das geöffnete Lagerthor. Seine mächtige Lanze aus der Ferne geſchleudert, durchbohrte den Bithias, daß der Boden von ſeinen fallenden Rieſengliedern bebte, und der Schild auf den Liegenden herniederraſſelte. Die Trojaner flohen zurück in das Thor und nach drängten ſich die ſiegenden Rutuler. Da faßte Pandarus mit einem Blick auf die ausgeſtreckte Leiche ſeines Bruders, die Thorflügel in ihren Angeln, und warf ſie, mit den Schultern angeſtemmt, in die Wölbung zurück, daß das Thor verſchloſſen war, und viele Trojaner im Gefechte draußen, viele Rutuler in die Mauern eingezwängt, zu¬ rückblieben. Aber der Unbeſonnene hatte nicht bedacht, daß mitten unter den Eingeſchloſſenen Turnus ſelbſt ſich befand, wie ein Tiger, der in den Stall eingelaſſen iſt. Voll Entſetzens erkannten die Trojaner das ſchreckliche Geſicht und die rieſigen Glieder. Nur Pandarus, ein Rieſe wie er, erſchrack nicht. Voll Erbitterung über die Ermordung ſeines Bruders, ſtellte er ſich ihm ent¬ gegen und rief: „Hier biſt du nicht im Palaſte der Schwiegermutter, ſchmachtender Bräutigam, im Feindes¬ lager ſtehſt du, und wirſt nicht wieder hinauskommen!“ Schwab, das klaſſ. Alterthum III., 25

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/407
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/407>, abgerufen am 16.06.2024.