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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

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latinischen Königsburg stand ein Lorbeerbaum, welchen
der alte König schon angetroffen und dem Phöbus ge¬
weiht hatte, als er den Palast gründete. Nun besetzte
einst plötzlich den Gipfel des Baumes ein dichter Bie¬
nenschwarm, der mit lautem Gesumse durch die heitere
Lust herbeigeflogen kam; Füße an Füße klammernd,
hing der ganze Schwarm, wie eine Blumendolde plötzlich
vom grünenden Aste des Baumes herunter. Man rief
einen Wahrsager herbei, der das Zeichen deuten sollte.
Dieser sprach: "Ich sehe einen Mann und ein Heer vom
Auslande herbeiziehen, aus Einer Himmelsgegend nach
Einer Himmelsgegend, und sehe ihn zu oberst in dieser
Burg herrschen!" Und wiederum geschah ein neues Zei¬
chen. Als die Jungfrau Lavinia mit ihrem Vater am
Altare stand, und dieser die Opferflamme anfachte, da
schien es, als fingen die Locken der Jungfrau Feuer, ihr
Haar brenne, die Krone von Gold und Edelsteinen
glühe, und verstreue, in Rauch und Flammen gehüllt,
Gluth durch den ganzen Palast. Das wurde nun vol¬
lends für ein bedeutsames und grausenhaftes Wunder
gehalten: zwar Lavinia selbst -- so lautete die Deutung
der Seher -- gehe einem herrlichen Geschick und großen
Ruhm entgegen, aber dem Volke weissage dieses Zeichen
einen fürchterlichen Kriegsbrand. Latinus befragte dar¬
über das Orakel seines Vaters Faunus. Aber auch
dieses wahrsagte ihm einen fremden Eidam, aus dessen
Stamm ein Geschlecht erwachsen werde, dem die Herr¬
schaft der ganzen Welt bestimmt sey. --

Am Tibergestade streckte sich der gelandete Aeneas
mit seinem Sohne Julus und den übrigen Trojanerfür¬
sten unter einem hohen, schattigen Baume nieder, und

latiniſchen Königsburg ſtand ein Lorbeerbaum, welchen
der alte König ſchon angetroffen und dem Phöbus ge¬
weiht hatte, als er den Palaſt gründete. Nun beſetzte
einſt plötzlich den Gipfel des Baumes ein dichter Bie¬
nenſchwarm, der mit lautem Geſumſe durch die heitere
Luſt herbeigeflogen kam; Füße an Füße klammernd,
hing der ganze Schwarm, wie eine Blumendolde plötzlich
vom grünenden Aſte des Baumes herunter. Man rief
einen Wahrſager herbei, der das Zeichen deuten ſollte.
Dieſer ſprach: „Ich ſehe einen Mann und ein Heer vom
Auslande herbeiziehen, aus Einer Himmelsgegend nach
Einer Himmelsgegend, und ſehe ihn zu oberſt in dieſer
Burg herrſchen!“ Und wiederum geſchah ein neues Zei¬
chen. Als die Jungfrau Lavinia mit ihrem Vater am
Altare ſtand, und dieſer die Opferflamme anfachte, da
ſchien es, als fingen die Locken der Jungfrau Feuer, ihr
Haar brenne, die Krone von Gold und Edelſteinen
glühe, und verſtreue, in Rauch und Flammen gehüllt,
Gluth durch den ganzen Palaſt. Das wurde nun vol¬
lends für ein bedeutſames und grauſenhaftes Wunder
gehalten: zwar Lavinia ſelbſt — ſo lautete die Deutung
der Seher — gehe einem herrlichen Geſchick und großen
Ruhm entgegen, aber dem Volke weiſſage dieſes Zeichen
einen fürchterlichen Kriegsbrand. Latinus befragte dar¬
über das Orakel ſeines Vaters Faunus. Aber auch
dieſes wahrſagte ihm einen fremden Eidam, aus deſſen
Stamm ein Geſchlecht erwachſen werde, dem die Herr¬
ſchaft der ganzen Welt beſtimmt ſey. —

Am Tibergeſtade ſtreckte ſich der gelandete Aeneas
mit ſeinem Sohne Julus und den übrigen Trojanerfür¬
ſten unter einem hohen, ſchattigen Baume nieder, und

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[350/0372] latiniſchen Königsburg ſtand ein Lorbeerbaum, welchen der alte König ſchon angetroffen und dem Phöbus ge¬ weiht hatte, als er den Palaſt gründete. Nun beſetzte einſt plötzlich den Gipfel des Baumes ein dichter Bie¬ nenſchwarm, der mit lautem Geſumſe durch die heitere Luſt herbeigeflogen kam; Füße an Füße klammernd, hing der ganze Schwarm, wie eine Blumendolde plötzlich vom grünenden Aſte des Baumes herunter. Man rief einen Wahrſager herbei, der das Zeichen deuten ſollte. Dieſer ſprach: „Ich ſehe einen Mann und ein Heer vom Auslande herbeiziehen, aus Einer Himmelsgegend nach Einer Himmelsgegend, und ſehe ihn zu oberſt in dieſer Burg herrſchen!“ Und wiederum geſchah ein neues Zei¬ chen. Als die Jungfrau Lavinia mit ihrem Vater am Altare ſtand, und dieſer die Opferflamme anfachte, da ſchien es, als fingen die Locken der Jungfrau Feuer, ihr Haar brenne, die Krone von Gold und Edelſteinen glühe, und verſtreue, in Rauch und Flammen gehüllt, Gluth durch den ganzen Palaſt. Das wurde nun vol¬ lends für ein bedeutſames und grauſenhaftes Wunder gehalten: zwar Lavinia ſelbſt — ſo lautete die Deutung der Seher — gehe einem herrlichen Geſchick und großen Ruhm entgegen, aber dem Volke weiſſage dieſes Zeichen einen fürchterlichen Kriegsbrand. Latinus befragte dar¬ über das Orakel ſeines Vaters Faunus. Aber auch dieſes wahrſagte ihm einen fremden Eidam, aus deſſen Stamm ein Geſchlecht erwachſen werde, dem die Herr¬ ſchaft der ganzen Welt beſtimmt ſey. — Am Tibergeſtade ſtreckte ſich der gelandete Aeneas mit ſeinem Sohne Julus und den übrigen Trojanerfür¬ ſten unter einem hohen, ſchattigen Baume nieder, und

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/372>, abgerufen am 22.11.2024.