Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

Agelaus, das dieser im Tode sinken lassen, vom Boden
auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das
Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.

Nahe an der Seitenpforte stand der Sänger Phe¬
mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der
Todesangst, ob er sich durch das Pförtchen in den Hof
zu retten suchen, oder die Kniee des Odysseus umfassen
sollte. Endlich entschloß er sich zu dem Letztern, legte
die Harfe zwischen dem Mischkrug und Sessel zu Boden,
und warf sich vor Odysseus nieder. "Erbarme dich
meiner," rief er, seine Kniee umschlingend, "du selbst
bereuetest es, wenn du den Sänger erschlagen hättest,
der Götter und Menschen mit seinem Lied erfreut. Ich
bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will
ich dich im Gesange feiern! Dein Sohn kann es mir
bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß sie
mich gezwungen haben, zu singen!" Odysseus hob das
Schwert, doch zögerte er; da sprang Telemach herzu
und rief: "Halt, Vater, verwunde mir diesen nicht, er
ist unschuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht
schon von den Hirten oder dir ermordet ist, laß uns
verschonen, er hat mich schon als Kind im Hause so
sorglich gepflegt, und wollte uns immer wohl." Medon,
der, in eine frische Rinderhaut gehüllt, unter seinem
Sessel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte sich
los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da
mußte der finstere Held Odysseus lächeln, und sprach:
"Seyd getrost, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬
machs Bitte schützt euch. Gehet hinaus und verkündiget
den Menschen, wie viel besser es sey, gerecht, als treu¬
los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und

Agelaus, das dieſer im Tode ſinken laſſen, vom Boden
auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das
Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.

Nahe an der Seitenpforte ſtand der Sänger Phe¬
mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der
Todesangſt, ob er ſich durch das Pförtchen in den Hof
zu retten ſuchen, oder die Kniee des Odyſſeus umfaſſen
ſollte. Endlich entſchloß er ſich zu dem Letztern, legte
die Harfe zwiſchen dem Miſchkrug und Seſſel zu Boden,
und warf ſich vor Odyſſeus nieder. „Erbarme dich
meiner,“ rief er, ſeine Kniee umſchlingend, „du ſelbſt
bereueteſt es, wenn du den Sänger erſchlagen hätteſt,
der Götter und Menſchen mit ſeinem Lied erfreut. Ich
bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will
ich dich im Geſange feiern! Dein Sohn kann es mir
bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß ſie
mich gezwungen haben, zu ſingen!“ Odyſſeus hob das
Schwert, doch zögerte er; da ſprang Telemach herzu
und rief: „Halt, Vater, verwunde mir dieſen nicht, er
iſt unſchuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht
ſchon von den Hirten oder dir ermordet iſt, laß uns
verſchonen, er hat mich ſchon als Kind im Hauſe ſo
ſorglich gepflegt, und wollte uns immer wohl.“ Medon,
der, in eine friſche Rinderhaut gehüllt, unter ſeinem
Seſſel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte ſich
los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da
mußte der finſtere Held Odyſſeus lächeln, und ſprach:
„Seyd getroſt, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬
machs Bitte ſchützt euch. Gehet hinaus und verkündiget
den Menſchen, wie viel beſſer es ſey, gerecht, als treu¬
los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0288" n="266"/>
Agelaus, das die&#x017F;er im Tode &#x017F;inken la&#x017F;&#x017F;en, vom Boden<lb/>
auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das<lb/>
Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte.</p><lb/>
            <p>Nahe an der Seitenpforte &#x017F;tand der Sänger Phe¬<lb/>
mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der<lb/>
Todesang&#x017F;t, ob er &#x017F;ich durch das Pförtchen in den Hof<lb/>
zu retten &#x017F;uchen, oder die Kniee des Ody&#x017F;&#x017F;eus umfa&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ollte. Endlich ent&#x017F;chloß er &#x017F;ich zu dem Letztern, legte<lb/>
die Harfe zwi&#x017F;chen dem Mi&#x017F;chkrug und Se&#x017F;&#x017F;el zu Boden,<lb/>
und warf &#x017F;ich vor Ody&#x017F;&#x017F;eus nieder. &#x201E;Erbarme dich<lb/>
meiner,&#x201C; rief er, &#x017F;eine Kniee um&#x017F;chlingend, &#x201E;du &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
bereuete&#x017F;t es, wenn du den Sänger er&#x017F;chlagen hätte&#x017F;t,<lb/>
der Götter und Men&#x017F;chen mit &#x017F;einem Lied erfreut. Ich<lb/>
bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will<lb/>
ich dich im Ge&#x017F;ange feiern! Dein Sohn kann es mir<lb/>
bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß &#x017F;ie<lb/>
mich gezwungen haben, zu &#x017F;ingen!&#x201C; Ody&#x017F;&#x017F;eus hob das<lb/>
Schwert, doch zögerte er; da &#x017F;prang Telemach herzu<lb/>
und rief: &#x201E;Halt, Vater, verwunde mir die&#x017F;en nicht, er<lb/>
i&#x017F;t un&#x017F;chuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht<lb/>
&#x017F;chon von den Hirten oder dir ermordet i&#x017F;t, laß uns<lb/>
ver&#x017F;chonen, er hat mich &#x017F;chon als Kind im Hau&#x017F;e &#x017F;o<lb/>
&#x017F;orglich gepflegt, und wollte uns immer wohl.&#x201C; Medon,<lb/>
der, in eine fri&#x017F;che Rinderhaut gehüllt, unter &#x017F;einem<lb/>
Se&#x017F;&#x017F;el verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte &#x017F;ich<lb/>
los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da<lb/>
mußte der fin&#x017F;tere Held Ody&#x017F;&#x017F;eus lächeln, und &#x017F;prach:<lb/>
&#x201E;Seyd getro&#x017F;t, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬<lb/>
machs Bitte &#x017F;chützt euch. Gehet hinaus und verkündiget<lb/>
den Men&#x017F;chen, wie viel be&#x017F;&#x017F;er es &#x017F;ey, gerecht, als treu¬<lb/>
los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0288] Agelaus, das dieſer im Tode ſinken laſſen, vom Boden auf, und hieb dem Leiodes, während er noch flehte, das Haupt vom Nacken, daß es in den Staub hinrollte. Nahe an der Seitenpforte ſtand der Sänger Phe¬ mius, die Harfe in den Händen. Er überlegte in der Todesangſt, ob er ſich durch das Pförtchen in den Hof zu retten ſuchen, oder die Kniee des Odyſſeus umfaſſen ſollte. Endlich entſchloß er ſich zu dem Letztern, legte die Harfe zwiſchen dem Miſchkrug und Seſſel zu Boden, und warf ſich vor Odyſſeus nieder. „Erbarme dich meiner,“ rief er, ſeine Kniee umſchlingend, „du ſelbſt bereueteſt es, wenn du den Sänger erſchlagen hätteſt, der Götter und Menſchen mit ſeinem Lied erfreut. Ich bin der Lehrling eines Gottes, und wie einen Gott will ich dich im Geſange feiern! Dein Sohn kann es mir bezeugen, daß ich nicht freiwillig hierherkam, daß ſie mich gezwungen haben, zu ſingen!“ Odyſſeus hob das Schwert, doch zögerte er; da ſprang Telemach herzu und rief: „Halt, Vater, verwunde mir dieſen nicht, er iſt unſchuldig; auch den Herold Medon, wenn er nicht ſchon von den Hirten oder dir ermordet iſt, laß uns verſchonen, er hat mich ſchon als Kind im Hauſe ſo ſorglich gepflegt, und wollte uns immer wohl.“ Medon, der, in eine friſche Rinderhaut gehüllt, unter ſeinem Seſſel verborgen lag, hörte die Fürbitte, wickelte ſich los, und lag bald dem Telemach flehend zu Füßen. Da mußte der finſtere Held Odyſſeus lächeln, und ſprach: „Seyd getroſt, ihr Beide, Sänger und Herold, Tele¬ machs Bitte ſchützt euch. Gehet hinaus und verkündiget den Menſchen, wie viel beſſer es ſey, gerecht, als treu¬ los zu handeln. Die zwei eilten aus dem Saale, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/288
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/288>, abgerufen am 23.11.2024.