Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

dasselbe Schwert in den Leib, Thyestes kam aus seiner
Haft hervor und bemächtigte sich auf kurze Zeit des
brüderlichen Reiches; aber der älteste Sohn des Atreus,
Agamemnon, stellte ihm nach und rächte mit dem
Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegisthus blieb
verschont, er ward von den Göttern zum Fluche des
Geschlechtes aufgehoben und regierte als König in dem
alten Antheile seines Vaters im südlichen Lande.

Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬
zogen war, und seine Gemahlin Klytämnestra, über die
Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen
Mutterschmerze zu Hause saß, da däuchte dem Aegis¬
thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit
seiner Rache zu nahen. Er erschien im Königspallaste
zu Mycene, und der Wunsch, am unmenschlichen Gat¬
ten sich zu rächen, gab sie nach langem Widerstreben
der Verführung des Bösewichts preis, daß sie als mit
einem zweiten Gemahle Pallast und Reich Agamemnons
mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten
in dessen Hause damals drei Geschwister der entrückten
Iphigenia: ihr zunächst am Alter die kluge Jungfrau
Elektra, eine jüngere Schwester Chrysothemis, und ein
kleiner Knabe, Orestes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬
thus von dem Ehebund und Pallaste des Vaters Besitz.
Das frevelnde Paar, als sich der Kampf vor Troja
zu seinem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht,
daß der heimkehrende Agamemnon mit seiner furchtbaren
Kriegerschaar sie nicht unvorbereitet überraschen möchte.
Seit Jahren war auf den Zinnen des Pallastes ein
Wächter aufgestellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen
von der Meergränze des Landes her die Nachricht von

daſſelbe Schwert in den Leib, Thyeſtes kam aus ſeiner
Haft hervor und bemächtigte ſich auf kurze Zeit des
brüderlichen Reiches; aber der älteſte Sohn des Atreus,
Agamemnon, ſtellte ihm nach und rächte mit dem
Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegiſthus blieb
verſchont, er ward von den Göttern zum Fluche des
Geſchlechtes aufgehoben und regierte als König in dem
alten Antheile ſeines Vaters im ſüdlichen Lande.

Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬
zogen war, und ſeine Gemahlin Klytämneſtra, über die
Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen
Mutterſchmerze zu Hauſe ſaß, da däuchte dem Aegis¬
thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit
ſeiner Rache zu nahen. Er erſchien im Königspallaſte
zu Mycene, und der Wunſch, am unmenſchlichen Gat¬
ten ſich zu rächen, gab ſie nach langem Widerſtreben
der Verführung des Böſewichts preis, daß ſie als mit
einem zweiten Gemahle Pallaſt und Reich Agamemnons
mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten
in deſſen Hauſe damals drei Geſchwiſter der entrückten
Iphigenia: ihr zunächſt am Alter die kluge Jungfrau
Elektra, eine jüngere Schweſter Chryſothemis, und ein
kleiner Knabe, Oreſtes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬
thus von dem Ehebund und Pallaſte des Vaters Beſitz.
Das frevelnde Paar, als ſich der Kampf vor Troja
zu ſeinem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht,
daß der heimkehrende Agamemnon mit ſeiner furchtbaren
Kriegerſchaar ſie nicht unvorbereitet überraſchen möchte.
Seit Jahren war auf den Zinnen des Pallaſtes ein
Wächter aufgeſtellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen
von der Meergränze des Landes her die Nachricht von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0028" n="6"/>
da&#x017F;&#x017F;elbe Schwert in den Leib, Thye&#x017F;tes kam aus &#x017F;einer<lb/>
Haft hervor und bemächtigte &#x017F;ich auf kurze Zeit des<lb/>
brüderlichen Reiches; aber der älte&#x017F;te Sohn des Atreus,<lb/>
Agamemnon, &#x017F;tellte ihm nach und rächte mit dem<lb/>
Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegi&#x017F;thus blieb<lb/>
ver&#x017F;chont, er ward von den Göttern zum Fluche des<lb/>
Ge&#x017F;chlechtes aufgehoben und regierte als König in dem<lb/>
alten Antheile &#x017F;eines Vaters im &#x017F;üdlichen Lande.</p><lb/>
            <p>Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬<lb/>
zogen war, und &#x017F;eine Gemahlin Klytämne&#x017F;tra, über die<lb/>
Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen<lb/>
Mutter&#x017F;chmerze zu Hau&#x017F;e &#x017F;aß, da däuchte dem Aegis¬<lb/>
thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit<lb/>
&#x017F;einer Rache zu nahen. Er er&#x017F;chien im Königspalla&#x017F;te<lb/>
zu Mycene, und der Wun&#x017F;ch, am unmen&#x017F;chlichen Gat¬<lb/>
ten &#x017F;ich zu rächen, gab &#x017F;ie nach langem Wider&#x017F;treben<lb/>
der Verführung des Bö&#x017F;ewichts preis, daß &#x017F;ie als mit<lb/>
einem zweiten Gemahle Palla&#x017F;t und Reich Agamemnons<lb/>
mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten<lb/>
in de&#x017F;&#x017F;en Hau&#x017F;e damals drei Ge&#x017F;chwi&#x017F;ter der entrückten<lb/>
Iphigenia: ihr zunäch&#x017F;t am Alter die kluge Jungfrau<lb/>
Elektra, eine jüngere Schwe&#x017F;ter Chry&#x017F;othemis, und ein<lb/>
kleiner Knabe, Ore&#x017F;tes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬<lb/>
thus von dem Ehebund und Palla&#x017F;te des Vaters Be&#x017F;itz.<lb/>
Das frevelnde Paar, als &#x017F;ich der Kampf vor Troja<lb/>
zu &#x017F;einem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht,<lb/>
daß der heimkehrende Agamemnon mit &#x017F;einer furchtbaren<lb/>
Krieger&#x017F;chaar &#x017F;ie nicht unvorbereitet überra&#x017F;chen möchte.<lb/>
Seit Jahren war auf den Zinnen des Palla&#x017F;tes ein<lb/>
Wächter aufge&#x017F;tellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen<lb/>
von der Meergränze des Landes her die Nachricht von<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0028] daſſelbe Schwert in den Leib, Thyeſtes kam aus ſeiner Haft hervor und bemächtigte ſich auf kurze Zeit des brüderlichen Reiches; aber der älteſte Sohn des Atreus, Agamemnon, ſtellte ihm nach und rächte mit dem Schwert an ihm des Vaters Mord. Aegiſthus blieb verſchont, er ward von den Göttern zum Fluche des Geſchlechtes aufgehoben und regierte als König in dem alten Antheile ſeines Vaters im ſüdlichen Lande. Wie nun Agamemnon in den Krieg vor Troja ge¬ zogen war, und ſeine Gemahlin Klytämneſtra, über die Opferung ihrer Tochter Iphigenia grollend, im tiefen Mutterſchmerze zu Hauſe ſaß, da däuchte dem Aegis¬ thus die rechte Zeit gekommen, auch dem Atriden mit ſeiner Rache zu nahen. Er erſchien im Königspallaſte zu Mycene, und der Wunſch, am unmenſchlichen Gat¬ ten ſich zu rächen, gab ſie nach langem Widerſtreben der Verführung des Böſewichts preis, daß ſie als mit einem zweiten Gemahle Pallaſt und Reich Agamemnons mit ihm theilte. Von ihrem rechtmäßigen Gatten lebten in deſſen Hauſe damals drei Geſchwiſter der entrückten Iphigenia: ihr zunächſt am Alter die kluge Jungfrau Elektra, eine jüngere Schweſter Chryſothemis, und ein kleiner Knabe, Oreſtes. Vor ihren Augen nahm Aegis¬ thus von dem Ehebund und Pallaſte des Vaters Beſitz. Das frevelnde Paar, als ſich der Kampf vor Troja zu ſeinem Ende neigte, war jetzt nur darauf bedacht, daß der heimkehrende Agamemnon mit ſeiner furchtbaren Kriegerſchaar ſie nicht unvorbereitet überraſchen möchte. Seit Jahren war auf den Zinnen des Pallaſtes ein Wächter aufgeſtellt, dem ein nächtliches Fackelzeichen von der Meergränze des Landes her die Nachricht von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/28
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/28>, abgerufen am 23.11.2024.